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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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Appetit, mit noch größerer Gier zu verzehren. So nahm es Jahr um Jahr seinen Fortgang: Die beiden Wellen der Myrmidopteraner wechselten sich ab, bis Philip K. wieder eine gut marsgroße Tomate war, wenn auch eine matschige und von Motten angenagte Tomate. Aber was kümmerte ihn das schon? Zeit hatte keine Bedeutung mehr für ihn, genauso wenig wie die Angst vor dem Tod. Wenn er sterben mußte, so geschah das nach dem Willen von Geschöpfen, deren metallene Schwingen er verehrte, deren Beißkiefer er willkommen hieß, deren Speichel er herbeisehnte – keineswegs in der Art und Weise, in der ein Süchtiger chemische Befriedigung erfleht, sondern so, wie es den frommen Kommunikanten nach dem Wein und der Oblate des Abendmahls verlangt. Und obwohl Jahrzehnte verstrichen, ließ Philip K. sie aus diesem Grund gewähren.
     
    IRGENDWO JENSEITS DES ALLS/ZEITKRÜMMUNG
    Woher kamen die Myrmidopteraner? Wer oder was waren sie? Das waren Fragen, über die Philip K. selbst während der Höhepunkte seiner unfaßbaren Wonnen nachgrübelte. Während er verspeist wurde, schärfte sich sein Bewußtsein; es erreichte eine neue Erkenntnisstufe, und das Ausmaß seiner Extrapolationen war ihm beinah unheimlich. Er stieß auf eine Antwort … zumindest auf die erste Frage. Die Heimat der Myrmidopteraner lag hinter dem bildlichen Horizont des Universums; sie kamen von jenseits der elementaren Krümmung, mit der sich der Raum in sich selbst zurückneigte. Philip K. begriff, daß er es hier mit einem Paradoxon zu tun hatte. Vielleicht konnte nicht einmal eine komplizierte Struktur aus Beschreibungen, Zahlenwerten und Ideogrammen zu einer Erklärung führen, die der offensichtlichen Realität gerecht wurde. Die Myrmidopteraner schienen sich Philip K. aus allen Richtungen genähert zu haben, von jedem nur erdenklichen Punkt des Raums. Diese Tatsache war bedeutsam. Sie symbolisierte die charakteristische Eigenschaft dieser Geschöpfe, von dem Raum/Zeit-Kontinuum unabhängig zu sein, von dem unser physikalisches Universum ein integraler Bestandteil ist. Ja, so überlegte Philip K., sie agieren in diesem physikalischen Universum, sie unterliegen sogar dem Zwang, physische Bedürfnisse befriedigen zu müssen – was dadurch hinreichend bewiesen ist, daß sie mich verspeisen. Aber ihre Heimat liegt in … Äußeren Domänen der Schöpfung, einem Nichtort, wo sie in einer ätherischen Daseinsform existieren, die dieses Kontinuum (das sie gelegentlich aufsuchen müssen) ständig entwürdigt. Wie konnte Philip K. das wissen? Er wußte es. Die Myrmidopteraner fraßen. Und deshalb wußte er es.
     
    DAHINSCHWEBENDER TAG
    Dann hörten sie gänzlich damit auf, sich an ihm zu laben. Eine Welle der Geschöpfe stieg von seinem mitgenommenen Körper empor und glitt mühelos aus seiner Gravitationssphäre hinaus. Dann trieb der Schwarm auseinander und entschwand in Richtung der … nun, der äußersten Grenzen der Ewigen Nacht. Golden und silbern, silbern und golden … bis Philip K. sie nicht mehr sehen konnte. Wie rasch ihr Glanz in der Ferne verblaßte, rascher, als er es für möglich gehalten hätte. Noch ein mattes Glühen, dann nichts mehr. Von der zweiten Welle der Myrmidopteraner, deren Landung er nun erwartete, blieben nur zwölf Ameisenmotten zurück, und sie schwebten draußen im All, an verschiedenen Punkten über seiner Oberfläche. Er konnte sie ganz deutlich sehen, denn seine optischen Wahrnehmungszellen, so begriff er, waren identisch mit seinem ganzen Selbst und nicht nur Bestandteil seiner bereits vor langer Zeit abgenagten ursprünglichen Außenhaut – eine Gunst, die er dem wunderbaren Speichel seiner Gäste und ihrem Bemühen zu verdanken hatte, ihn langsam in Das Mysterium einzuweihen. Jene zwölf Erzengel begannen ihre Schwingen so zu verkanten, daß sie ihn, Philip K., aus der Umlaufbahn des sich zornig aufblähenden Papa hinausmanövrieren konnten. Papa wird einen Kollaps erleiden, sagte sich Philip K. Er wird eine ganze Reihe von energetischen Zusammenbrüchen erleiden, und sie folgen so dicht aufeinander, daß es beinah den Anschein hat, es sei ein einziger. (Und wieder war sich Philip K. völlig sicher. Er wußte es einfach.) Während sie ihn immer weiter ins All hinausgeleiteten – wobei sie ein rätselhaftes Verfahren anwandten, von dem er eine dunkle Ahnung hatte –, verwendeten die Myrmidopteraner ihre großen Schwingen dazu, die wärmenden Strahlen des roten Riesen auf jeden Quadratzentimeter seiner Oberfläche zu

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