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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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wackligen Tisch Platz und schlug die Beine übereinander. »Mein Lebenswerk … Sparen Sie sich diesen pathetischen Quatsch! Ich mußte die Miete bezahlen, und den Strom … Ich mußte für Alimente aufkommen … Ich hatte nur das Glück, auf eine Formel zu stoßen, auf der ich dreißig Jahre lang herumreiten konnte …« Er breitete die Arme aus. »Die Zertrümmerung der Realität … Ist das, was wir wahrnehmen, wirklich das, was ist?« Er lachte sich eins. »Wenn ein Depp wie John Norman seinen Lesern dreißig Mal den gleichen Scheiß auftischt – ja, dann schrein die Kritikaster Mord und Brand. Doch bringt einer die Philosophen mit ins Spiel und deutet an, daß er eine Bildung hat – dann fallen sie vor Ehrfurcht in den Lehm und schreiben gelehrte Abhandlungen. Kein Arsch hat erkannt, was wirklich los war: daß ich immer nur auf diesem blöden Thema rumgeritten bin, weil ich kein anderes hatte.« Er kicherte. »Mir ist in diesem öden Genre einfach nichts anderes eingefallen. Wie finden Sie das?«
    »Meister …« Ich rutschte vom Bett und kniete zu seinen Füßen nieder und wollte ihm sagen, wie sehr ich ihn bewunderte, doch draußen, auf der Kaiserstraße, ertönten nun die rauhen türkischen Sprechchöre der emigrierten Jünger des Ayatollah Yüksel Kützelmütz. Sie beherrschten den westlichen Zipfel der Stadt und forderten lautstark die Absetzung ihres reaktionären Ministerpräsidenten Pützel Mützelkütz und die Übergabe seines Amtes an ihr religiöses Oberhaupt.
    Eine Skinhead-Hundertschaft ließ gleich darauf lautes Gejohle und das Klirren geworfener Flaschen ertönen, und ehe ich mich versah, waren mir die Äußerungen meines Gegenübers nur noch sehr bruchstückhaft verständlich.
    »Die Realität! Die Realität!« schrie er. »Ich scheiß was auf die Realität, die sich in SF-Romanen abspielt!«
    »Ich auch, Meister«, sagte ich, und fügte stolz hinzu: »Ich bin nämlich auch Science Fiction-Autor.«
    »Das ist ja gerade das Schlimme«, lautete seine zornbebende Antwort. »Ihr depperten Heinis interessiert euch einen Scheiß für die Wirklichkeit! Ihr wollt aus ihr raus! Ihr wollt …«
    »Momeeeeent!« unterbrach ich ihn. »Ich habe nicht gesagt, daß ich ein Science Fiction- Fan bin! Denken Sie etwa, ich glaube den Schwachsinn, den ich verfasse? Denken Sie etwa …«
    »Dort draußen«, sagte der Mann und deutete zum Fenster hinaus, »da ist eure Realität! Dort draußen ist die Hölle los, doch ihr wollt Geschichten über enigmatische Figuren lesen, denen sich Dinge offenbaren, die sie an ihrem Verstand zweifeln lassen! Schauen Sie raus, sehen Sie es sich an!«
    Und er packte mich am Kragen und schleifte mich zum Fenster, damit ich mir die – äußerst uninteressante, wie ich fand – Wirklichkeit ansah. Es gab nichts Besonderes zu sehen: Die Mannen Ayatollah Kützelmützens und die inzwischen aufgetauchten Anhänger des amtierenden Ministerpräsidenten Mützelkütz hauten sich mit langen Zaunlatten vor den Kopf, während die Skinheads johlend applaudierten. Das Haus gegenüber war gerade von dem Amazonen-Kommando besetzt worden, das kürzlich das Kino gesprengt hatte, und die Mädels waren gerade – wie ich durch ein offenes Fenster sah – dabei, einen Mann zu lynchen, während eine der wehrhaften Damen höhnisch ein erbeutetes Pornoheft vor seiner Nase herumschwenkte.
    Ein bewaffneter Tamilentrupp kam hoch zu Roß die Kaiserstraße herabgeritten; an ihren Fersen klebte mit dröhnenden Motoren eine Meute schwarzledern bekleideter Rocker, auf deren Westen Kill, Baby, Kill! stand.
    Als mein Blick auf das grünlich gestrichene, leicht angerostete Schwebebahngerüst fiel, das sich über die Kaiserstraße zieht, fielen mir diverse israelische Siedler auf, die eben dabei waren, das Ding an einer strategisch wichtigen Stelle anzusägen. Wahrscheinlich hatten die arabischen Ausflügler ihre Schwebebahn-Rundfahrt nun beendet und befanden sich auf dem Rückweg.
    »Was gibt es Spannenderes als die Wirklichkeit?« sagte der Mann und deutete auf eine abenteuerlich kostümierte Kompanie der Einzig Wahren Marxisten-Leninisten, die soeben dabei waren, den Eingang einer Filiale der Deutschen Bank zu verminen. »Ihr habt doch wohl alle einen Knick in der Optik, wenn ihr das nicht seht! Dort draußen spielt es sich ab, nicht in diesen gottverdammten Taschenbüchern!«
    Ich war zutiefst verletzt. Wie konnte er nur? Wie konnte ein phantasiebegabter Schriftsteller wie Philip K. Dick nur solche schrecklichen

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