Willkommen in der Wirklichkeit
einige Male ungeduldig an die Tür, dann nahmen sie einen elektronischen Door Opener zu Hilfe. Florenz beobachtete sie durch den Türspion. Es handelte sich um zwei breitschultrige, mindestens einsachtzig große, behelmte Polizeibeamte mit gezückten Dienstwaffen, in ihrer Begleitung ein schmalgesichtiger, hagerer Mann in einem grauen Anzug und ein Handwerker in einem ölbefleckten Overall. Sie traten sich in dem engen Flur gegenseitig auf die Füße. Florenz’ Nachbar reagierte auf ihre Rufe und ihr Geklopfe nicht. Auf einen Wink des Gerichtsvollziehers hin machte sich der Handwerker mit dem schlüsselartigen Gerät am Schloß zu schaffen.
Sie blieben nur fünf Minuten in der Wohnung. Florenz konnte das schwache, aufgeregte Gemurmel ihrer Stimmen hören. Er lehnte sich mit den Schultern gegen die Tür, legte sich eine Hand auf die Brust und schnaufe. Wenn er nicht vorgesorgt hätte, wären sie jetzt bei ihm. Er hatte sich der Eile wegen blind darauf verlassen müssen, daß sein Nachbar wieder einmal die Nacht sturzbetrunken in irgendeiner Gosse oder Ausnüchterungszelle zubrachte, und die Finte war ihm geglückt. Für den Moment jedenfalls.
Er wartete, nachdem die Beamten fort waren, eine Viertelstunde, ehe er die Namensschilder an seiner und der gegenüberliegenden Tür wieder vertauschte. Während er mit dem Schraubenzieher zu Werke war, ächzte das Fenster am Stirnende des Korridors in den Angeln; Florenz fröstelte in seinem verwaschenen Jogginganzug. Er beeilte sich, fertig zu werden. Zum Schluß ging er ins Bad, entfernte den Deckel des Klosettspülbehälters, holte den in eine Plastikfolie verpackten, irgendwann einmal unter der Hand erstandenen mechanischen Operier hervor und verschaffte sich damit Einlaß in die Wohnung seines Nachbarn. Auf dem Rauchglastisch im Wohnzimmer lagen einige Formularblätter, die er sofort zerriß und in den Müllschlucker warf. Er brauchte nicht lang, bis er sich einen Überblick verschafft hatte, an welchen Einrichtungsgegenständen Pfändungsmarken klebten. Betroffen waren die Stereoanlage, der Videorecorder, der Fernseher, die Kücheneinrichtung und ein vollautomatisches Sitzbadbidet im Bad. Alles in allem entsprach das einem Wert von etwa zwölftausend Mark, einschließlich Bearbeitungs-, Zins-, Mahn- und Vollstreckungsgebühren, also etwa der Summe, die er sich 1976 während einer Südamerikareise unter den abenteuerlichsten Vorwänden in mehr als zwei Dutzend deutschen Vertretungen zusammengebettelt hatte.
Er löste die Plaketten vorsichtig mit einem Küchenmesser ab, fuhr mit dem Staubsauger einmal über den Wohnzimmerteppich und den Läufer in der Diele und ging in seine Wohnung zurück. Er überlegte kurz, dann schob er auf dem Regal im Wohnzimmer einige Bücher zur Seite, nahm das Fernglas und schlurfte an Stapeln vergilbter Zeitungen und überquellenden Müllbeuteln vorbei durch die Küche. Er mußte einige leere Milchflaschen wegräumen, um die Balkontür zu öffnen. In dem Haus auf der schräg gegenüberliegenden Seite des Hofs stand Dieter Wesselheimers Badfenster offen. Die Vorhänge des Arbeitszimmers waren noch zugezogen. Florenz hob im Schutz eines zusammengesunkenen, löchrigen Sonnenschirms das Fernglas und konnte nur mit Mühe die frische Packung Aftershave auf dem Spiegelschränkchen ausmachen. Er merkte sich die Marke.
Er setzte sich gähnend an den Tisch und zog das Videophon und den Decoder zu sich heran. Bislang hatte er weder gefrühstückt noch seine Morgentoilette hinter sich gebracht, aber das war jetzt nicht wichtig. Mit einer Hand fegte er Zigarettenkippen, leere Chipstüten und gebrauchte Papiertaschentücher vom Tisch, mit der anderen tippte er den Code des Tages ins Keyboard. Der Decoder piepste, ein Relais rastete ein und aus dem Videophonhörer tönte das Freizeichen. Florenz wählte Dieter Wesselheimers Nummer, aber niemand nahm ab. Dann fiel ihm ein, daß er eine Vorsichtsmaßnahme vergessen hatte, und legte auf. Er wiederholte den Vorgang, ließ Dieter Wesselheimers Videophon einmal klingeln, unterbrach und wählte erneut.
Der Bildschirm flackerte, und das Gesicht seines Freundes erschien. Er blickte irgendwie bestürzt drein. Aus der Kompaktstereoanlage im Hintergrund tönte Lautenmusik der Renaissance, offenbar handelte es sich um die Instrumentalfassung von John Dowlands Flow My Tears.
»Ah, guten Morgen, mein Teurer«, sagte er erleichtert. »Sag mal, was für ein Tag ist heute?«
»Donnerstag«, erwiderte Florenz.
»Wann
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