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Willkommen in der Wirklichkeit

Willkommen in der Wirklichkeit

Titel: Willkommen in der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Anton
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Festplatteninhalt des PCs durch. Der Telefonhörer lag noch immer auf dem Akustikkoppler.
    Es war sinnlos. Die gesamte Musiksoftware, die er im Auftrag der als ›Freundeskreis der Niederrheinischen Volksmusik‹ getarnten Kölner Jazzkooperative geschrieben hatte, war hinüber. Das Virus hatte das ganze MIDI-System lahmgelegt. Er mußte auf seinem zweiten PC wieder von vorn anfangen. Aber wenn er auf diese Weise nicht gewarnt worden wäre, hätte er sich um seine Arbeit ohnehin keine Sorgen mehr zu machen brauchen.
    Auf dem Bildschirm stand:
     
    Werter Freund,
    verzeihen Sie mir das unhöfliche Eindringen, aber ich sah keine andere Möglichkeit, Sie zu warnen. Am 13. Januar 1983 wird um 8.00 Uhr morgens ein Gerichtsvollzieher mit einigen Polizisten bei Ihnen auftauchen, um Sie wegen eines seit sieben Jahren dauernden Strafverfahrens zu belangen. Die Aktion ist Teil einer Offensive gegen die klügsten Leute des ›Freundeskreises der Niederrheinischen Geisteskultur‹, weil man ihnen keine kommunistischen Umtriebe nachweisen konnte. Ich hoffe, Sie können etwas dagegen unternehmen.
    Herzlichst Ihr Horselover Fat
     
    Es hatten sich fünfundzwanzig Personen zur Versammlung eingefunden. Zwei Mädchen in hautengen Satinhosen gingen rum und schenkten Bier und Schnaps aus. Zigarettenrauch stieg in dicken Schwaden zur Decke. Es roch nach Schweiß und Nikotin. Ein kleiner, flaumbärtiger Jugendlicher an einem Platz neben den beiden Diskussionsleitern am Stirnende der Tischreihe hielt das Einführungsrefarat für diesen Abend.
    »… und deshalb … äh … plädiere ich mit allem Nachdruck dafür, daß sich der ›Freundeskreis der Niederrheinischen Geisteskultur‹ von diesen … äh … Vorfällen eindeutig distanziert«, nuschelte er gerade, als Dieter Wesselheimer und Florenz J. Wallmond in den Seminarraum kamen. Die übrigen Kulturfreunde klatschten Beifall oder klopften mit den Fäusten auf den Tisch. Wesselheimer knöpfte den Kragen seines braungefleckten Hemdes auf, holte aus einer Tasche seiner Second Hand-Bundeswehrhose einen Notizkalender hervor und zog geräuschvoll einen Stuhl vom Tisch zurück. Florenz schlurfte mit gesenktem Blick hinter ihm her, die langen ungewaschenen Haare hingen ihm zottelig ins Gesicht. Er blickte niemanden an, als er Platz nahm. »Wir dürfen den Absturz dieser beiden deutschamerikanischen Satelliten über Marin County nicht zum Anlaß werden lassen, unsere gesamte Kulturarbeit …«
    »Genosse Wesselheimer und Genosse Wallmond«, unterbrach ihn ein hochgewachsener, schmalgesichtiger Kerl in schwarzem Anzug, Krawatte und mit einer Sonnenbrille auf der Nase, der Protokollführer des Abends. »Ich halte es für ein Zeichen maßloser Unsolidarität den anderen Gruppenmitgliedern gegenüber, daß ihr wieder einmal zu spät kommt.«
    »Scheiß mich bloß nicht an, du Lump«, brüllte Dieter Wesselheimer. Er zog eine wilde Grimasse und schob herrisch das Kinn vor. »Du hast doch selbst seit einem halben Jahr keine Beiträge mehr bezahlt.«
    »Was?« fragte Werring. Er hob die Sonnenbrille von der Nase und sah Wesselheimer eindringlich an. »Dafür wirst du dich auf der Stelle entschuldigen.«
    »Ich denke überhaupt nicht daran.« In dem Saal erhob sich sofort tumultartiger Lärm. Zwei Dutzend Leute redeten aufgeregt durcheinander.
    »Genossen, liebe Genossen, also so geht das wirklich nicht«, sagte der Diskussionsleiter Peter Blaster. Während er mit dem Teelöffel gegen seine Kaffeetasse schlug, rückte er sich das in der Aufregung verrutschte Stirnband zurecht. Auf seinem Hemdkragen blitzten Lichtfunken von den Che Guevara- und Marx-Engels-Buttons, die er normalerweise unter der Lederjacke verborgen trug. »Können wir jetzt bitte zum Thema des heutigen Abends zurückkommen.«
    »Auf keinen Fall«, sagte Werring und stand auf. Er deutete mit dem Finger auf Dieter Wesselheimer. »Das lasse ich mir von einem hergelaufenen Kryptofaschisten wie dem da nicht bieten.«
    »Mach mal halblang«, sagte Wesselheimer gelassen. »Sonst kläre ich die Genossen mal über deine Karriere beim Bundesnachrichtendienst auf.«
    »Was? Du wagst es …« Er schnappte nach Luft. »Erst heute habe ich unter Einsatz meiner persönlichen Freiheit unseren Genossen Rainer Hillmann aus seiner Wohnung geholt, ehe die Polizei ihn kriegen konnte.«
    »Das stimmt«, bestätigte Blaster. »Ich war dabei.«
    »Das ist das mindeste, was ihr tun konntet«, sagte Wesselheimer und kratzte sich am Bauch. »Wenn ihr schon die

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