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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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müßte ich blind sein, wenn ich es nicht in dem Wrack, das Sie aus sich gemacht haben, entdecken würde. Fleisch!« schrie er plötzlich. »Gemetzel! Rotes Fleisch und Blut!« Er zitterte, und das Rapier seines Bartes stach in die Luft, als würde er unsichtbare Feinde vor sich hertreiben.
    Aber in diesem Augenblick verspürte Will einen Zorn in sich aufsteigen, der dem des Doktors nicht nachstand. Wer war dieser kleine Zuchtmeister, der ihm einen Vortrag hielt, als würde er noch in Kniehosen stecken? Der Erfinder des Sinusbades? Homer Praetz’ Mörder? »Na und?« sagte er.
    »›Na und?‹« heulte der Doktor. »Dab? Dab? Haben Sie gehört? Dieser Mann liegt völlig erledigt auf dem Bett, das sich sehr gut als sein Totenbett herausstellen könnte, hat sich vergiftet, ruiniert – absolut ruiniert – dank seiner Laster, und er greift mich auch noch an. ›Na und?‹, sagt er. In der Tat. Nun, Sir« – er wandte sich wieder an Will –, »warum gestatten Sie mir nicht, Ihnen eine ausreichende Dosis Chloral oder Strychnin zu verordnen und dem Ganzen ein angemessenes Ende zu setzen? Was? Nun?«
    Der Sekretär war blutrot angelaufen, fett, dampfend. Er sah aus, als hätte man ihn in einen Brühkessel im Schlachthof getaucht. Und der Doktor – dieser blasse, verkümmerte kleine Pilz von einem Mann – war fast genauso rot. Aufgeplustert. Aufgebläht vor Wut und moralischer Empörung. Will musterte sie, diese beiden überhitzten Zeloten, die über dem Knochen ihres Dogmas knurrten, und der Anblick stärkte ihm das Rückgrat. Obwohl ihm vor Schwäche und Schuldgefühlen schlecht war, obwohl ihn die Erwähnung seines Totenbetts bis ins Mark getroffen hatte, beschloß er, in die Offensive zu gehen. »Ja, in Ordnung, und wenn ich schon auf meinem Totenbett liege, dann erzählen Sie mir doch von Homer Praetz – na los, geben Sie’s zu, erzählen Sie mir, wie ihn Ihre vortrefflichen Behandlungsmethoden erlöst haben.«
    Ein Furunkel, das anschwillt und anschwillt, bis es platzt – das war Dr. Kellogg. Er war blind, er war taub, er war ein Gott auf einer Wolke: Der Name Homer Praetz war niemals ausgesprochen worden. Solche Dreistigkeit verdiente keine Antwort. »Schwester Bloethal!« brüllte er, und die Tür ging auf, Will erhaschte einen Blick auf eine aschfahle Irene Graves, die ängstlich zu ihm hereinspähte, während Schwester Bloethal in all ihrer zackigen Herrlichkeit über die Schwelle marschierte. »Bringen Sie diesen … diesen« – der Doktor senkte die Stimme zu einem Zischen –, »diesen Fleischfresser in die Dickdarmabteilung und schließen Sie ihn bis auf weiteres an die Klistiermaschine an. Haben Sie mich verstanden?«
    Schwester Bloethal nahm Habachtstellung ein. »Ja, Doktor«, bellte sie, und einen Augenblick lang glaubte Will, sie würde salutieren.
    »Ja«, sagte der Doktor gedankenverloren; er sprach zu sich selbst, obwohl er Will in die Augen starrte, »wir werden ihn schon ausscheuern.«
     
    Später am Abend – es mußte ungefähr acht Uhr gewesen sein, die Fenster waren schwarz, und Schweigen hatte sich über die entvölkerten Flure des San gelegt, die Bettpfannen waren aufgeräumt, die Klistiere ausgewaschen – hatte Will einen weiteren Besucher. Nach einer gewalttätigen Bewässerung, ausgeführt von Schwester Bloethal, die die ganze Zeit tadelnd den Kopf geschüttelt und ihn ausgeschimpft hatte, hatte er sein Abendessen (wenn man es so nennen will) allein auf seinem Zimmer zu sich genommen. Als es klopfte, lag er da in seiner Agonie, starrte zur Decke empor, den vertrauten Brackwassergeschmack der Algen auf dem Gaumen;
    Samen keimten in seinen Eingeweiden, seine Gedärme waren so sauber ausgewaschen wie das Bett eines Flusses in den Alpen. Die Nachttischlampe warf ein kränkliches gelbes Licht auf seine eingefallenen Wangen und den hohen Rücken seiner Nase. Eine Karaffe mit Wasser stand auf dem Nachttisch, daneben ein Glas. The Atlantic Monthly mit dem schlichten braunen Umschlag lag vergessen am Fußende des Bettes neben einem aus dem Leim gegangenen Exemplar von Camping and Tramping With Roosevelt und der Weihnachtsausgabe von Harper’s. »Herein«, rief er mit schwacher Stimme.
    Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, und ein körperloses Gesicht lugte um die Ecke. Augenzwinkern. Grinsen. Und dann stand Charlie Ossining im Zimmer, die Tür fiel leise hinter ihm ins Schloß. »Hallo, Will«, flüsterte er und ging auf Zehenspitzen zu dem Stuhl in der Ecke, den er an den

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