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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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eigenen Augen.«
    Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Jetzt glaubte sie ihm, das sah er. Sie stand noch einen Augenblick da – die Wolken drückten gegen die Fenster, Weihnachten legte eine schwere, unversöhnliche Hand über das San mit all seinem Drum und Dran und die sorgfältig ausgesuchte Umgebung –, bis sie schließlich zischte: »Ja, gut, vielleicht ist er tot – aber das ist keine Entschuldigung dafür, daß du bis zur Bewußtlosigkeit getrunken hast, oder?« Ihre Absätze klapperten hart auf dem Boden, die Tür schwang auf, und sie war verschwunden.
     
    Am nächsten Tag war Dr. Kellogg dran.
    Es war nach vier Uhr nachmittags, als er unangemeldet aufkreuzte, kaum hatte er den Operationssaal verlassen. Er trat forsch auf, gereizt, trug eine Maske höchster patriarchaler Empörung zur Schau. Sein keuchender Sekretär folgte ihm ins Zimmer, die Hände vor dem Bauch gefaltet, den Blick auf den Boden gerichtet: ein Priester bei einer Hinrichtung. »Nun, Sir«, rief der Doktor, steckte die Hand in Wills Mund, um seine Zunge zu begutachten, klopfte ihm auf die Brust, als handelte es sich um ein halbleeres Faß Sauternes, und schnappte sich sein Handgelenk, um ihm den Puls zu fühlen, »nun, Sir, jetzt erzählen Sie mir mal, was los ist.«
    Will sagte nichts. Sein Verstand war klar, und er kochte vor Wut. Schlangenöl. Voodoo. Er hätte genausogut einen Medizinmann in einer Strohhütte konsultieren können. Alles, angefangen von den vibrierenden Stühlen über die Einreibung mit Salzbrei bis zum Sinusbad – es war schlicht und einfach Quacksalberei. Und dieser kleine Scharlatan war Triebfeder und Ursache davon. Will kochte vor Wut, ja, aber er hatte auch Angst – schreckliche Angst. Er war in miserabler Verfassung, und er wußte es. In Zukunft gab es keine Trauben, soviel war klar, und obwohl ihm nicht danach war, irgend etwas zu essen, obwohl er sich so schlecht wie nie zuvor in seinem Leben fühlte, war er wieder bei Psylliumsamen und hijiki, zurück am Ausgangspunkt. Er blickte auf in die stählernen blauen Augen und hatte eine Vorahnung, die ihm einen Schauer durch die Knochen jagte: Er würde in diesem Bett sterben, er würde im Sanatorium sterben, dem Heiler unter den Händen wegsterben und hinter dem Haus mit den anderen, die gescheitert waren, zur Ruhe gebettet werden, mit Homer Praetz und der Frau, die an Auszehrung gestorben war, und dem schlaffen, kalten, dankbaren Truthahn. »Helfen Sie mir«, krächzte er.
    »Aha!« schnauzte der Doktor. »Ihnen helfen, was?« Er war bereits wieder aufgestanden vom Bett, schritt auf und ab, strich sich über den Bart, ließ Schultern und Arme kreisen, schüttelte die Hände, als käme er gerade aus der Dusche. Er nahm die Brille ab, ohne stehenzubleiben, hauchte die Gläser an, holte ein fleckenloses Taschentuch hervor, um sie abzureiben, dann drehte er sich um und kam durchs Zimmer auf ihn zu. »Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich selbst nicht helfen wollen.« Er blieb stehen, setzte die Brille wieder auf, und seine Augen funkelten kalt hinter der eisigen weißen Fassung. »Wie ich hörte, haben Sie den Anordnungen Ihrer Ärzte eklatant zuwidergehandelt – meinen und Dr. Linnimans Anordnungen.«
    Will sah zur Seite. Er spürte sein Herz schlagen, im Hals, in den Schläfen, in den Fingerspitzen.
    »Sehen Sie mich an, Sir. Ich sage, Sie haben meinen Anordnungen zuwidergehandelt, Ihr Leben aufs Spiel gesetzt, sich einer perversen, haltlosen Ausschweifung hingegeben. Wie ich höre, haben Sie Fleisch verzehrt. Alkoholhaltige Getränke. Sauer Eingelegtes, Soßen, Ketchup. Haben Sie auch schwarzen Kaffee getrunken? Herr im Himmel, es überrascht mich, daß Sie sich nicht, wo Sie schon dabei waren, Ihre Eingeweide mit Coca-Cola verätzt haben. Nun? Antworten Sie mir, Sir. Was haben Sie zu Ihrer Rechtfertigung zu sagen?«
    Will hatte ihn auf den Befehl hin sofort wieder angesehen. Die humorlosen Augen nagelten ihn aufs Kopfkissen. Der Mann verzieh nichts, er kannte keine Gnade, er war stur und unmenschlich wie eine Furie. Er beschloß zu lügen. »Nein«, sagte er und verlieh seiner Stimme Volumen, »das ist nicht wahr.«
    Der Doktor blieb wie angewurzelt stehen, erstarrte auf der Stelle, jeder Muskel seines Körpers angespannt; sein Blick war mörderisch. »Lügen Sie mich nicht an, Sir«, knurrte er, »das lasse ich mir nicht gefallen. Halten Sie mich für einen Dummkopf? Auch wenn niemand für mich aufpassen würde im Red Onion – ja, im Red Onion –,

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