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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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physiologischen Leisten packte und zum Bett trug. »Du siehst –« seine Stimme erstarb, als er es sich auf dem Stuhl bequem machte und eine Papiertüte aus der Manteltasche zog. »Ich wollte gerade sagen, du siehst großartig aus, aber das wäre gelogen. Du siehst schrecklich aus, Freund, absolut schrecklich.«
    Will blickte kaum auf, aber er freute sich. Die letzten zwei Tage waren die Hölle gewesen, ein Kontinuum von Kopfweh und Magenschmerzen, hie und da unterbrochen von Besuchen einer frostigen Eleanor, eines sadistischen Kellogg und einer groben Schwester Bloethal. Irene, die nicht länger »indisponiert« war, hielt sich zurück: Er hatte sie während der ewig dauernden Stunden seines Rückfalls nur sporadisch zu Gesicht bekommen. Kurz, alles tat ihm weh, und er langweilte sich. Er langweilte sich, bis er schwarz wurde.
    Charlie sah ihn wissend an. »Verkatert, was?« sagte er. »Das war ’ne Nacht, was? Himmel, ich kam mir vor, als hätte mich der Frühzug überfahren und einen halben Kilometer mitgeschleift.« Er lachte kurz.
    Im Zimmer wurde es still. Charlie musterte ihn. Will war eine Frage gestellt worden: War er verkatert? Es war eine naive, hoffnungsvolle Frage, und er sah seinem Freund die Besorgnis an – ein Kater war etwas Verständliches, etwas Alltägliches und Erklärliches, eine Krankheit, von der man logischerweise erwarten konnte, daß man sich von ihr wieder erholte. Wie ihm die Wahrheit sagen? Wie ihm sagen, daß er dem Untergang geweiht war, verdammt, dazu verurteilt, an einem bockigen Darm und einer hypersensiblen Natur zu sterben?
    Aber Charlie wartete nicht auf eine Antwort. Er sah sich im Zimmer um, bis sein Blick schließlich am Buch von Burroughs hängenblieb. »Wie ich sehe, interessierst du dich für den Präsidenten und seine Bären«, sagte er. »Amüsant, nicht wahr?«
    Amüsant, ja. Will stimmte zu.
    Charlie zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht«, sagte er und hob die braune Papiertüte hoch, »dieses Zeug über rauhe Einzelgänger ist ein bißchen zuviel für mich, Jack London und so weiter. Ich mag Stadtgeschichten, Männer und Frauen aus der besseren Gesellschaft, diese Art Bücher. Oder auch spritzige Sachen. Wie heißt er doch gleich, Dreiser? Hast du ihn gelesen? Das Buch über das Mädchen aus der Kleinstadt, das überhaupt keine Skrupel hat? Wie im richtigen Leben. Frauen.« Er hob zwecks Nachdruck die Augenbrauen, holte beiläufig eine Halbliterflasche Whiskey aus der Tüte, brach mit einer Drehung des Handgelenks das Siegel auf und zog den Korken aus der Flasche. »Weißt du, ich hab’ vor ein paar Jahren Olga Nethersole in Sapho gesehen, bevor sie das Stück absetzten. Wenn man wissen will, was spritzig ist, wau! Das war es. Jungejunge.«
    Wills Augen fixierten die Flasche. Flüssiges Gold, Schlaf, Vergessen, Schnaps. Er setzte sich auf.
    Charlie griff nach dem Glas auf dem Nachttisch. »Willst du auch einen?« sagte er. »Einen kleinen Schluck, um den Schmerz zu betäuben?« Er schenkte ein. Will sah zu, wie die goldene Flüssigkeit im Glas höher stieg: zwei Finger, drei, vier. »Ich weiß nicht, was dir fehlt« – ein bedeutungsvoller Blick –, »aber ich wette, es wird ’ne Zeitlang dauern, bis du wieder gesund bist.« Er reichte Will das Glas, prostete ihm mit der Flasche zu, und dann hielt er sie schief und trank.
    Mit klopfendem Herzen, während sein Magen absackte wie ein außer Kontrolle geratener Aufzug und sich Schweiß bildete auf seiner Stirn, umklammerte Will mit zittriger Hand das Glas, als würde es ihm gleich aus den Fingern rutschen. Er beobachtete, wie sich der Kehlkopf seines Freundes auf- und abbewegte, während * sich der Pegel in der Flasche um knapp drei Zentimeter senkte, und alles, was er in diesem Augenblick wollte, war trinken. Es gab keinen Schmerz mehr, keine Angst, keine Tyrannei der Auserwählten – es gab nur noch das Glas in seiner Hand und die helle warme Honigfarbe, die es im Schein der Lampe annahm. Er hielt das Glas ins Licht. Jetzt war es bleich wie Luft, dann wieder dunkel wie Rauch. Er hob es an die Nase und roch sämtliche Blumen der Wiese, roch das Faß aus gebeiztem Eichenholz, die Maische, die erregenden Dämpfe. Aus dem Augenwinkel sah er, daß Charlie ihn beobachtete. Er mußte ihm nicht gut zureden. Wie in Trance hob er das Glas an den Mund und leerte es in drei Zügen.
    »Das zieht rein, was?« Charlie ächzte, versuchte, es sich auf dem orthopädischen Stuhl des Doktors bequem zu machen. »Himmel noch mal«,

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