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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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dem Tabakwarenladen senkte den Blick, war plötzlich ganz in seine Gedanken versunken. Und was hatte sie der alten Dame sonst noch erzählt? Daß sie den geschäftsführenden Direktor von Per-Fo auf der Straße getroffen hatte, mit einer Reklametafel vorne und einer hinten, wie er penetrant Werbung trieb für ein nichtexistierendes Produkt wie ein Hausierer, der von Tür zu Tür ging, wie ein Lumpensammler? O Gott: Er mußte die Augen schließen und sich angesichts dieser Erinnerung die Schläfen massieren.
    Es war Bender gewesen, der ihm das eingebrockt hatte. Nach dem absoluten, vollständigen und bedauerlichen Fehlschlag des Versuchs, in Bookbinders Keller Frühstücksflocken herzustellen, war Bender auf eine ausgedehnte Verkaufsreise verschwunden, aber damit sein Partner während seiner Abwesenheit beschäftigt war, hatte er Charlie davon überzeugt, daß Reklame am Produktionsort der Schlüssel zum Erfolg war: Wenn sie es in Battle Creek, Lebensmittelstadt, USA, schafften, dann würden sie es überall schaffen. Das wäre ein Treffer. Ein echter Volltreffer. Und wie konnten sie Reklame machen – und zwar flächendeckend in der ganzen Stadt und auf die ökonomischste Art? Nun, Charlie hatte doch nichts zu tun, während Bender mit seinen Kostproben durch Gottes schöne große Welt reiste und sich die Hacken ablief, um Vorbestellungen aufzunehmen, oder?
    Und so marschierte Charlie Ossining, lange bevor sich der Winter verabschiedete, bevor sich das schmutziggraue Eis an den Bordstein zurückzog und sich die Schneefelder in Matsch verwandelten, bevor die Menschen den Drang verspürten, ihre warmen, kohlebeheizten Häuser und Geschäfte zu verlassen, um über die Straßen zu flanieren, durch die Stadt wie ein Sandwich, zwischen zwei harten, neuen Sperrholzplatten, auf denen stand: PER-FO, DER NEUESTE GESUNDHEITSSCHMAUS VON KELLOGG! MACHT DAS BLUT AKTIV! KAUFEN SIE NOCH HEUTE EINE SCHACHTEL UND PROBIEREN SIE! Natürlich gab es keine Schachteln zu kaufen außer denjenigen, die sich, vollgestopft mit Will Kelloggs originalen Flocken, in Benders Besitz befanden, Gott allein wußte, wo. Charlie protestierte, aber Bender versicherte ihm, daß sie Nachfrage schufen, indem sie das Produkt vom Markt zurückhielten – wenn man Bender glaubte, handelte es sich um den genialsten Reklametrick seit den Gratiskostproben. Die Leute kriegen es nicht, stimmt’s?, hatte er gefragt und eine scheinheilige Miene aufgesetzt. Und wenn die Leute ein Produkt nicht kriegen, was passiert dann – sie sind enttäuscht, stimmt’s? Bender hatte eine ganze Weile gelächelt; seine Behauptung war von einer solch offensichtlichen Logik – sogar einem Armen im Geiste mußte sie einleuchten. Wenn das Zeug dann in den Regalen stand, so versicherte er Charlie, kam es zu Tumulten in den Läden – die Leute kauften drei oder vier Schachteln, nur um sie zu haben, zur Sicherheit.
    Charlie gab nach. Er ging durch die Straßen, eine lebende Reklametafel, ein Marktschreier, ein Hausierer, und er kam sich wie ein Idiot vor. Am ersten Tag, einem stürmischen Märznachmittag, als Staub, Ruß, Laub, Papier und Pferdeexkremente in tausend Windhosen durch die Luft wirbelten, verkroch er sich in eine Seitenstraße, kaum sah er jemanden kommen. Aber dann stählte er sich – vielleicht hatte Bender ja recht, vielleicht schufen sie ja tatsächlich eine Nachfrage, die sich hundertfach auszahlen würde – und blieb bei der Stange, strengte sich an, das Gefühl der Demütigung niederzukämpfen und seine Slogans jedem vorzuführen, der Augen im Kopf hatte und passable Englischkenntnisse. Es war kein umwerfender Erfolg. Kinder wichen vor ihm zurück, Fußgänger sahen durch ihn hindurch, Ladenbesitzer wandten sich ab. Um Hunde kümmerte er sich nicht.
    Am Ende der Woche jedoch war ihm die Sache zur zweiten Natur geworden, und er war sich der zwei Sperrholzplatten sowenig bewußt wie seines Überziehers oder seiner Schuhe: Die Tafeln waren so sehr ein Teil von ihm geworden, daß er sich ohne sie unvollständig fühlte. Wenn er abends zu Mrs. Eyvindsdottir zurückkehrte, mit schmerzenden Füßen und halb erfrorenen Händen, und die Gurte ablegte, glaubte er, er würde davonschweben. Es war ein seltsames Gefühl, die Treppe zu seinem Zimmer hinaufzusteigen und nicht seitwärts gehen zu müssen, sich hinzusetzen und zu essen und nichts weiter als den eigenen Kopf auf den Schultern zu tragen, es war komisch, sich auf dem Bett auszustrecken und eine Zigarette zu rauchen,

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