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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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moralisch überlegenen Standpunkt eingenommen zu haben schien. Während der kleine Doktor nach allen Seiten grüßte und von einer lächelnden Gruppe zur nächsten schritt, tat er Will beinahe leid. Er mochte ein Imperium aufgebaut, aus der Gesundheit eine Religion und aus Langlebigkeit ein Sakrament gemacht haben, aber er konnte Spinner wie Badger und Konkurrenten wie Post, Macfadden und die Brüder Phelps nicht abschütteln – und trotz seiner unzähligen Behandlungsmethoden, trotz der vibrierenden Stühle und der Einreibungen mit Salzbrei und der Klistiere, trotz der Ozeane aus Kräutertee und der Berge aus Nuttose konnte er noch nicht einmal davon träumen, es mit dem Heidelberg-Gürtel aufzunehmen.
    Will wurde von der Gräfin Tetranova abgelenkt, die eine Hand auf seinen Arm legte und aus ihren kurzsichtigen, umflorten russischen Augen zu ihm emporspähte und ihn bat, ihr eine Tasse Sorghum-Tee zu bringen. Sie war eine kleine Frau, nicht größer als ein zwölfjähriger Junge und, sofern der Augenschein nicht trog, auch nicht anders gebaut, mit Zügen, die die öde Blässe der Steppe widerspiegelten. Seit ihrem weihnachtlichen Ausflug zur Farm von Irenes Eltern betrachtete sie Will als guten Freund, hielt ihn, wenn er durch das San schlenderte, häufig auf, um ihm das Privileg zuteil werden zu lassen, ihr dies oder das zu holen. Höflich, unendlich höflich, hatte Will ohne Murren gehorcht, aber er war von ihrer Freundschaft nicht begeistert. Er fühlte sich nicht zu ihr hingezogen. Sie war nicht wie Miss Muntz, aber schließlich, das mußte er sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, war Miss Muntz nicht mehr. Wenn sie überhaupt noch existierte, dann als kahlköpfige Leiche in einem Erdloch in Poughkeepsie, New York, als Futter für die Würmer, ein Haufen Suppenknochen, der in der Eisbox vergammelt war. Will hatte der Messe für sie in der Sanatoriumskapelle beigewohnt. Sie war nicht groß angekündigt worden – der Tod war schließlich schlecht fürs Geschäft.
    Will brachte der Gräfin den Tee und sah zu, wie sie ein halbes dutzendmal vorsichtig daran nippte, wobei sie, wie ein Spatz an der Vogeltränke, den Kopf zur Tasse hin senkte. »Ein köstliches Gebräu«, sagte sie, hob ihm das Kinn entgegen und balancierte dabei die Tasse sorgsam auf der Untertasse. »Es erstaunt mich immer wieder, wie Dr. Kellogg es schafft, gesunde Dinge so gaumenfreundlich zuzubereiten. Sind Sie nicht auch meiner Meinung?«
    Will war nicht ihrer Meinung – er war, um es genau zu sagen, völlig entgegengesetzter Meinung. Gekochtes Terpentin hätte nicht widerlicher schmecken können. Aber es wäre grob gewesen, es auszusprechen, und da die Gräfin mit ihrer Illusion glücklich schien, kam er mit einem unverbindlichen Brummen davon. Sie ließ sich nicht weiter über dieses Thema aus, sondern machte eine banale Bemerkung über den Schnitt von Mrs. Tindermarshs Kleid – »Bezaubernd, nicht wahr?« –, und Will, pflichtbewußt und korrekt, antwortete mit einer Banalität. In diesem Augenblick kamen der Doktor und die kleine Gruppe, die ihn umgab, auf sie zu, der Große Heiler beherrschte den Raum wie ein Politiker eine Wahlveranstaltung, er tätschelte hier einen Arm, kraulte dort ein Kinn, flüsterte Vertraulichkeiten in erwartungsvolle Ohren. Eleanor ging zu seiner Linken, Badger zu seiner Rechten. Die Gräfin scharwenzelte um ihn herum; Will versuchte, sowohl gesund als auch erfreut auszusehen.
    »Gräfin«, schnurrte der Doktor, verbeugte sich tief und nahm ihre Hand in die seine, »es ist mir wie immer ein Vergnügen. Ich vermute, das kleine Problem, von dem wir letzte Woche sprachen, hat sich verflüchtigt?«
    Die Gräfin bedankte sich liebenswürdig und ausführlich -ja, sie fühle sich jetzt viel besser, genau wie er vorhergesagt habe, aber sie wolle nicht, daß man ihr Symptomitis vorwerfe, deshalb habe sie geschwiegen –, als sich der Doktor Will zuwandte. »Und Sie, Lightbody«, säuselte er, die Brillengläser funkelten, und er trug einen verschlagenen, selbstzufriedenen Ausdruck im Gesicht, »mit Ihnen geht’s aufwärts, was?«
    Wills strahlend verlautbarte Antwort ging unter in einer nörgelnden, krächzenden Tirade von Badger, der zu einem Feldzug aufrief mit dem Ziel, einer Gerberei in Michigan City, Indiana, das Handwerk zu legen. Badger hatte Eleanor belabert, aber jetzt drängte er sich zwischen Will und den Doktor, quengelte weiter über den Gestank der Häute, das Barbarische der ganzen Sache – warum

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