Willkommen in Wellville
ohne daß der hölzerne Rahmen ihn einschloß. Die Wochen vergingen wie im Nebel, ein Tag war wie der andere. Er war eine Arbeitsbiene, ein Packesel. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang marschierte er durch die Straßen von Battle Creek, und nicht ein einziger Gedanke ging ihm durch den Kopf.
Bis er Eleanor über den Weg lief. Es war ein rauher Tag Anfang April, ein dichter Regen bildete Nebelschwaden, die Straßen waren nahezu menschenleer. Charlie war naß bis auf die langen Unterhosen, seine Melone hatte jede Form verloren und war vollgesogen wie ein Schwamm, Strähnen nassen Haars klebten auf seiner Stirn, und von seiner Nasenspitze tropfte es unablässig auf die vordere Reklametafel, von wo das Regenwasser in einem Delta von Rinnsalen hinunterfloß. Er kauerte unter der Markise von Sherwins Lebensmittelladen und versuchte, eine nasse Zigarette anzuzünden, als er aufblickte und feststellen mußte, daß er zum erstenmal, seit sie sich an Weihnachten gegenübergesessen hatten, in jene kalten, taxierenden Augen sah.
»Mr. Ossining«, zwitscherte Eleanor, »sind Sie es wirklich? Ja? Was für eine Überraschung, Sie zu treffen – ist es Ihnen hier nicht zu naß?« Sie stand unter einem Regenschirm neben einem großen, knochigen Mann mit eingesunkenen Augen, unter dessen Hutkrempe verwaschene rötliche Haarbüschel hervorlugten. Es war nicht ihr Arzt und auch nicht ihr Mann. Charlie hatte ihn nie zuvor gesehen.
»Eleanor.« Charlie räusperte sich. Das Zündholz erlosch, die Zigarette zerbröselte in seiner Hand. Er fragte sich, ob sie etwas von den tausend Dollar wußte, die er von ihrem Mann bekommen hatte, spekulierte, warum sie ihn formell mit »Mr. Ossining« und nicht mit »Charlie« begrüßt hatte – waren sie nicht Kumpel, Busenfreunde, Leute, die miteinander gespeist und Vertraulichkeiten ausgetauscht hatten? –, und fast im gleichen Augenblick fiel ihm wieder ein, daß er Reklametafeln trug. Es wäre ja nicht so schlimm gewesen, wenn auch sie Reklametafeln getragen hätte und der Wasserkopf neben ihr ebenfalls und der Mann, der auf der anderen Straßenseite aus der Droschke stieg, und einfach alle in Battle Creek und dem Rest Amerikas und Europas, aber das war nicht der Fall. Er und nur er trug Reklametafeln, diese taktlosen, peinlichen Dinger, diesen gierigen, lautlosen Schrei von einem Kleidungsstück, das so sehr Teil seiner selbst geworden war, daß er volle sechzig Sekunden brauchte, um seine Fassung wiederzugewinnen. Er lächelte unsicher, wischte sich übers Haar, schlug mit dem Hut gegen seinen Oberschenkel, und nachdem ihm nichts anderes einfiel, hob er ihn hoch zu einem spöttischen Gruß, bevor er ihn sich wieder aufs durchnäßte Haupt setzte. »Lange nicht mehr gesehen«, brachte er heraus, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, eingezwängt zwischen zwei Reklametafeln Konversation zu machen.
»Wie ich sehe, tragen Sie Reklametafeln«, sagte Eleanor.
Charlie versuchte, zwanglos dreinzublicken. »Ja«, sagte er.
Es folgte eine verlegene Pause. Regen rann von der Markise. Ein Einspänner schlich die Straße entlang. Einen halben Meter von ihnen entfernt, hinter der großen Glasscheibe, stand eine mannshohe Pyramide Post-Toasties-Schachteln. Charlie kam sich plötzlich dämlich vor, frustriert, er war wie »Popcorn George«, der fades Popcorn in zerknitterten Tüten zum Kauf oder Tausch feilbot, oder wie der Krüppel mit den Kleiderbürsten, der wie ein Gespenst durch die Straßen wanderte. Was tat er hier? Was dachte er sich dabei? Latschte C.W. Post etwa mit Reklametafeln herum?
»Es ist eine Möglichkeit, Reklame zu machen«, offerierte Eleanor, aber sie schien ihre Zweifel zu haben. Er spürte ihre Augen auf sich, hellgrüne Blutegel, die die Farbe aus seinem Gesicht saugten. »Ach«, hauchte sie plötzlich, »verzeihen Sie mir«, und dann stellte sie ihm den Trottel an ihrer Seite vor, ein Mann, dessen Körperbau keinerlei Proportionen aufwies: der Kopf zu groß für die Schultern, Hände wie Flossen, die Nase praktisch nicht vorhanden und die Zähne überdimensional. Badger, er hieß Badger.
»Sie sind im Frühstückskostgeschäft«, warf Badger ein, und sein Tonfall war vollkommen unmelodisch, wies nur Rhythmus auf. Seine Stimme klang trocken, kehlig, barbarisch, wie das Knurren eines Hundes, der einen Knochen verteidigt, nur daß er es irgendwie schaffte, Worte einzuflechten. Aber er war nicht auf den Kopf gefallen, das nicht – und er konnte lesen. Gewiß doch.
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