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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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den leuchtendgrünen Wiesen und pollenschweren Bienen – es hätte noch genausogut Winter sein können. Soweit es ihn betraf, war tatsächlich noch Winter, tiefster Winter – und was sollte er jetzt tun?
    Zunächst einmal ging er zu Bender. Zu Fuß. Mit gesenktem Kopf schritt er gedankenverloren aus wie eine gemarterte Seele, und nein, er trug die Reklametafeln nicht, und nein, er fühlte sich deswegen auch nicht schuldig. Was für einen Sinn hatte Reklame, wenn die ganze Welt um einen herum zusammenbrach? Selbstverständlich war er zu Bender gegangen, kaum hatte er den Brief bekommen, und gestern war er noch einmal bei ihm gewesen, und Bender hatte gegurrt und gesummt und geschnurrt, hatte ihm gut zugeredet und heilige Eide geschworen, Charlies Hand getätschelt und ihm betäubende Dosen Otard Dupuy eingeschenkt und argumentiert und ihm Vorwürfe gemacht – und was hatte es genützt? Nichts. Null. Überhaupt nichts. Was sollte er Mrs. Hookstratten sagen? Wie konnte er ihr gegenübertreten? Er bog um die Ecke McCamly, marschierte forsch weiter, als ihm die Alternative einfiel: ihr nicht gegenüberzutreten. Zu verschwinden. Die Stadt zu verlassen. Pfft: Weg wäre er. Alles, was er tun mußte, war, weiterzugehen bis zum Bahnhof, in einen Zug zu steigen und bis ans Ende der Welt zu fahren.
    Aber noch während er diesen feigen Ausweg in Betracht zog, spürte er, wie der scharfe Rand des Umschlags durch sein Hemd pikte, und er wußte, daß er es nicht konnte, nein, das konnte er Mrs. Hookstratten nicht antun. Ihr nicht. Nie und nimmer. Er blieb abrupt stehen und zog den Brief aus der Tasche, überflog ihn zum hundertstenmal, hoffte wider alle Vernunft, daß sich seine Bedeutung und seine Aussage irgendwie verändert hätten.
    Hatten sie nicht.
    Er stand da, mitten auf dem Gehweg, sein Kopf war auf die Brust gesunken, die Schultern hingen schlaff herab, er las, seine Lippen bewegten sich, und seine Stimme unterstrich die Worte mit einer Art Stöhnen. Passanten wichen ihm aus. Eine Frau mit einem wagenradgroßen Hut musterte ihn beunruhigt, und der Mann, der vor dem Tabakwarenladen in einem Schaukelstuhl neben dem geschnitzten Indianer saß, starrte ihn unverhohlen an. Aber was machte es Charlie schon aus – war der Mann ein Investor? War die Frau Mrs. Hookstratten? Er las und stöhnte, buchstabierte einmal mehr den Urteilsspruch, der ihn zum Untergang verdammte:
     
    Twin Oaks
    Lounsbury Pond
    Peterskill
    Montag, 4. Mai 1908
     
    Lieber Charles!
    Ich hoffe, dieser Brief trifft Dich bei bester Gesundheit an und unsere funkelnagelneue Frühstückskostfabrik ist im Aufstreben begriffen (wie sehr mir doch Mahagoni gefällt – es gibt nichts Besseres für Büroräume; irgendwann hast Du Dir einen exquisiten Geschmack angeeignet, und ich kann mir nicht helfen, aber ich denke, dein Tantchen Hookstratten hat mehr als nur ein bißchen dazu beigetragen). Daß Per-Fo so floriert! Es ist alles fürchterlich aufregend.
    Aber ich greife vor. Folgendes will ich dir mitteilen: Gute Nachrichten, mein liebster Junge. Ich werde zu Besuch kommen. Tantchen Hookstratten, die Dich auf auf ihren Knien gewiegt hat, die all Deine kleinen Wehwehchen und Sorgen vertrieben hat, als hätte es sie nie gegeben, ist unterwegs zu dir. Ja! Unterwegs nach Battle Creek!
    Ja, Charles, so ist es! Und nicht nur für eine Stippvisite (nennt man das so?), sondern um mich für eine Weile dort niederzulassen. Weißt Du, ich stehe in Verbindung mit Eleanor Lightbody aus Peterskill (Du kennst sie, nicht wahr – eine bezaubernde Frau), und sie hat mich von etwas überzeugt, was ich zuinnerst schon lange wußte, aber nicht eingestehen wollte – und was Dr. Brillinger bereits seit zwei Jahren weiß …
    Nun, es sind meine Nerven. So einfach ist das. Heute in einer Woche wird mich Dr. Kellogg zum Zwecke der Untersuchung im Sanatorium aufnehmen, und obwohl wir nicht wissen können, was wir finden werden und wie lange sich meine Genesung hinziehen wird, habe ich Vorbereitungen getroffen, bis Ende Juni zu bleiben, mindestens.
    Ich bin fürchterlich aufgeregt, mein Lieber. Ich bin begeistert und in Hochstimmung! Bereits jetzt, da die Entscheidung getroffen ist, fühle ich mich wohler und ruhiger – und ich weiß einfach, daß alles gut werden wird, wenn ich Dich und alles, was Du erreicht hast, mit eigenen Augen sehe.
    Alles Liebe.
    Herzlichst
    (Tantchen) Amelia
     
    Eleanor Lightbody, so? Er schimpfte sie lauthals ein aufdringliches Weibsstück, und der Mann vor

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