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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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modulierte er seine Stimme, raspelte Süßholz, verführte sie – er ließ sogar sein Buch mit den Vorbestellungen im Wert von zweiunddreißigtausend Dollar herumgehen. Als die Gäste die Schüsseln mit Per-Fo (das heißt, Kellogg’s Toasted Corn Flakes, demonstrativ aus knallbunten, neuen Per-Fo-Schachteln geschüttet), die er ihnen als Vorspeise servierte, geleert hatten und sich der Hummer und Steaks annahmen, hatte er Beteiligungen von allen außer einem in der Tasche und drei vollständig ausgefüllte Schecks, die er bereits ordentlich in seiner Brieftasche verstaut hatte.
    Für Charlie war es ein glorreicher Abend. Ein Abend der Wiedergutmachung und Ehrenrettung, voller Verheißung und Hoffnung. Zweiunddreißigtausend Dollar! Und dazu noch die neuen Schecks. Im Vergleich dazu wirkte Mrs. Hookstrattens Beteiligung armselig – armselig, wenngleich sicher. Nach all den Monaten des Zweifels und der Enttäuschung, des Pflastertretens, der einsamen Stunden bei Mrs. Eyvindsdottir, nach der Fischkopfsuppe und dem herzzerreißenden Fehlschlag in Bookbinders Keller geschah es endlich – endlich war Per-Fo flügge. An diesem Abend hätte Charlie Bender am liebsten ein Denkmal errichtet, hätte ihm am liebsten mit Weihrauch, Kerzen und einem Blutopfer gehuldigt.
    Aber dann geschah nichts weiter. Drei Wochen zogen ins Land, und Bender hüllte sich in Unergründlichkeit, gab nur vage Auskünfte hinsichtlich des Fabrikgeländes, der Baufirma, der Baupläne. In seinem Freudentaumel hätte sich Charlie bei dem Festessen beinahe dazu hinreißen lassen, seinem Partner von Will Lightbodys Scheck zu erzählen, dessen Erlös auf einem Konto, das auf den Namen Charles P. McGahee bei der National Bank Ecke Capitol und Michigan eröffnet worden war, Zinsen brachte. Beinahe, nur beinahe. Irgendein Körnchen Angst, ein allerletztes Quentchen Vorsicht hinderte ihn daran. Jetzt hatte dieses Körnchen angefangen, zu keimen und aufzugehen, es schmorte in der Galle von Benders Gleichgültigkeit, seiner Verzögerungstaktik, seiner schildkrötenhaften Saumseligkeit während all dieser Tage. Was tat er eigentlich? Worauf wartete er? »Alles zu seiner Zeit«, sagte er. »Alles zu seiner Zeit. Habe ich schon einmal einen falschen Kurs gesteuert?«
    Und dann war der Brief eingetroffen, und Charlies Leben war zerstört.
     
    Die Sonne hing am Himmel, dick wie eine Melone, und bespritzte die Straße mit Licht. Frauen mit Strohhüten schwebten in Geschäfte hinein und wieder heraus, Nachbarn riefen sich gutgelaunt Albernheiten zu, und ein alter Mann eierte auf einem Fahrrad die Straße entlang zwischen Sonne und Schatten wie bei einer Vorstellung der Laterna magica. Obwohl es erst Vormittag war – Charlies Uhr zeigte Viertel nach elf-, war es warm, der bislang wärmste Tag des Jahres, aber Charlie wurde dadurch nur gereizt. Als er gegenüber der Post Tavern um die Ecke bog, atmete er schwer, und unter den Achseln war sein Hemd feucht.
    Da seine gespannten Beziehungen mit den Angestellten des Hotels ein Betreten durch die Eingangshalle ausschlossen, ging Charlie für gewöhnlich am Wee Nippy vorbei und schlich auf der Rückseite durch den Dienstboteneingang hinein. Das hatte er auch jetzt vor. Als er die ganze Länge des Hotels abgeschritten hatte, überquerte er die Straße, wich unterwegs den Fahrzeugen aus, einem Schwarm Tauben, die im Rinnstein scharrten, und einer gescheckten Katze, die auf dem Bürgersteig vor dem Juwelierladen ihren Schlaf nachholte. Den linken Arm auf den Brief in der Brusttasche gepreßt, hastete er vorwärts und dachte, aufgeregt und besorgt, wie er war (was erwartete er eigentlich von Bender – irgendeine Aktion, die den Lauf der Ereignisse verzögern würde, eine Potemkinsche Fabrik, die über Nacht um Mrs. Hookstrattens willen aufgebaut würde, eine Rede, ein Wunder?), nicht daran, aufzublicken, um festzustellen, ob er beobachtet würde, bis es zu spät war. Er wurde beobachtet. Der Türsteher stand auf seinem üblichen Posten, unerbittlich, reglos, ewig wachsam, und er blickte Charlie direkt in die Augen. Charlie sah weg.
    Er spürte den Blick des Mannes auf sich, als er den Gehweg betrat, um die Ecke des Hotels und außer Sichtweite des Mannes eilte. Aber als er am Straßeneingang des Wee Nippy vorbeikam und in die Gasse hinter dem Hotel biegen wollte, warf er einen Blick über die Schulter – und er tat gut daran. Der Mistkerl stand da, an der Ecke, siebzig Meter von seinem Posten entfernt, die Arme vor der

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