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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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in die Faust lief: der Portier ging zu Boden wie eine Leiche. Er lag japsend im Dreck, und als er sich mit verdrehten Augäpfeln auf den Rücken rollte, sah Charlie Bender, nur Bender vor sich. Seine Füße erledigten den Rest. Ein Tritt für den Otard Dupuy, einen weiteren für das Telephon in seiner Suite, einen für Bookbinder, einen für die tausend Schachteln und einen letzten, harten, scharfkantigen Stiefeltritt für die geweckte Hoffnung und für die zerschlagene Hoffnung. Er hatte es gewußt, hatte es von Anfang an gewußt!
    Stimmen wurden laut. Am Ende der Gasse tauchte ein Gesicht auf, noch eins, viele. Charlie hetzte blindlings davon und rannte noch drei Block weiter, bevor er sich allmählich beruhigte. Ein Telephon, dachte er, ich muß zu einem Telephon. Schwitzend, mit wildem Blick und schiefsitzender Krawatte, den Hut wie einen Deckel auf den Kopf gestülpt, taumelte er in eine Drogerie und bat, das Telephon benützen zu dürfen. Der alte Mann hinter der Ladentheke war ihm gern behilflich. »Fehlt Ihnen auch nichts?« fragte er, sein Gesicht vor Besorgnis gefurcht wie eine Nuß.
    Charlie winkte ab und bat die Vermittlung, ihn mit dem Post Tavern Hotel zu verbinden. Es klickte, und dann hörte er das kraftlose Winseln des Empfangchefs, der ihm einen guten Tag wünschte. »Goodloe H. Bender«, sagte Charlie, und sein Herz schlug wie eine Trommel.
    Pause. Rauschen in der Leitung. »Tut mir leid, aber Mr. Bender wohnt nicht mehr hier – darf ich fragen, mit wem ich spreche?«
    »Tut nichts zur Sache«, hörte sich Charlie sagen, und der Trommelschlag dröhnte in seiner Kehle, unter seinen Augenlidern, drosch auf seine Schädeldecke ein. »Mr. Goodloe H. Bender. Sehen Sie noch mal nach.«
    »Wer ist am Apparat?«
    Berge stürzten ins Meer, Lava wurde um ihn herum hochgeschleudert. »Verdammt noch mal, Mann, verbinden Sie mich jetzt oder nicht?«
    Wieder eine Pause. Die Worte ätzten wie Säure. »Mr. Bender ist … verschwunden, wie das Zimmermädchen vom vierten Stock eben entdeckt hat. Seine Rechnung – eine beträchtliche Summe, eine sehr beträchtliche Summe – ist nicht beglichen worden. Spreche ich zufällig mit seinem Geschäftspartner?«
    Charlie hängte ein.
    Als er Ernest O’Reilly auf dem Schulhof traf und Ernest ihm den Umschlag mit Benders Nachricht aushändigte, wußte er bereits, wie sie lauten würde, wußte er bereits, was mit den zweiunddreißigtausend Dollar für die Vorbestellungen geschehen war, mit den Schecks der Bürger aus Battle Creek, mit Mrs. Hookstrattens unbesonnener Investition ins Frühstückskostgeschäft, er wußte bereits, wer die Sache würde ausbaden müssen, wer der Schuldige, der Dumme, der Bösewicht wäre: Charles P. Ossining, geschäftsführender Direktor der Per-Fo Company, Inc., Battle Creek. Er konnte es von seiner Visitenkarte ablesen. Mit zitternden Fingern – Ernest O’Reilly blickte verwundert zu ihm auf, und hundert drängelnde, schreiende Kinder stürmten an ihm vorbei zurück in die Klassenzimmer – riß er den Umschlag auf und entfaltete die Nachricht. Sie war, als hätte ein Kind sie geschrieben, in Blockbuchstaben verfaßt, Benders charakteristische Handschrift, als hätte er nie Schreibschrift gelernt, als wäre seine Weltgewandtheit so falsch wie sein gefärbter Backenbart.
     
    CHARLIE, HIERMIT TEILE ICH DIR MIT, DASS ICH FORT BIN + KEIN GRUND BESTEHT, BEI DER OLD NATIONAL + MERCHANTS NACH DEM PER-FO-KONTO ZU FRAGEN – BETRACHTE ES ALS MEIN HONORAR FÜR DEINE AUSBILDUNG. MIT GROSSEM BEDAUERN + DEN BESTEN WÜNSCHEN, DEIN GOOD.
     
    Charlie starrte wie betäubt auf die Worte. Er hätte genausogut seine eigene Grabinschrift lesen können.
     
    Es war ein milder, stiller Abend, der Duft einer wohlriechenden südlichen Gegend hing über dem Bahnhof wie ein Segen. Schatten lagen als Streifen auf den Gleisen, und die Bäume hinter dem Bahn hof waren in Bronze getaucht. Irgendwo schlug eine Glocke die Stunde. Obwohl sich Leute auf dem Bahnsteig einfanden und sich leise miteinander unterhielten, war das einzige Geräusch, das Charlie hörte, als er draußen auf einer Bank saß, das Zwitschern der Schwalben, die immer wieder in ihre Nester unter den Giebeln flitzten. Der Flug der Schwalben freute ihn nicht. Die Milde des Abends und das Spiel des Lichts auf den Bäumen verliehen ihm keinen Auftrieb, ebensowenig erfüllten sie ihn mit einem Gefühl der Ehrfurcht vor der Erde und der Schöpfung oder mit animalischer Daseinsfreude. Ganz im Gegenteil.

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