Willkommen in Wellville
Brust verschränkt, und beobachtete ihn. Charlie ging geradeaus weiter. Nach zehn Minuten war er wieder zurück, und diesmal war der Türsteher nirgendwo zu sehen. Er schlich die Gasse entlang auf den Dienstboteneingang zu und überlegte dabei, ob sie die Gleise der Michigan Central Line mit Dynamit in die Luft sprengen oder Mrs. Hookstratten ein fingiertes Telegramm schicken sollten, des Inhalts, daß ihre Schwester plötzlich und unerwartet verschieden sei, und schon war er durch die Tür und steuerte auf die Hintertreppe zu, als er begriff, daß die Gestalt auf dem Stuhl an der Wand, die jetzt im Halbdunkel erkennbar wurde, sein alter Widersacher, der Portier, war. Der Mann saß auf dem Stuhl wie eine Rinderhälfte, wie ein um einen Knochen modellierter Fleischberg. Er war in Hemdsärmeln und barfuß, seine Uniform hing an einem Haken an der Wand hinter ihm. In einer Hand hielt er ein Sandwich, und es war schwer zu sagen, wo das Sandwich aufhörte und die Hand begann. »Himmel, Arsch und Zwirn«, knurrte er leise und hievte sich erstaunlich behende aus dem Stuhl hoch.
Charlie hatte schon größeren Männern die Stirn geboten. Oder zumindest ebenso großen Männern. Er hatte vor niemandem Angst. Aber alles, was er in diesem Augenblick wollte, war Bender, Bender und sein beruhigendes Geschwafel, seine Kaltblütigkeit, seine Fähigkeit, die Dinge zu nehmen, wie sie kamen, und sich unter dem Stiefelabsatz des Unglücks wieder hervorzuwinden – alles, was er wollte, war Bender, der ihm sagte, daß alles wieder ins Lot kommen würde, nur noch ein einziges Mal. Angesichts der verquollenen Züge des Portiers lüpfte er den Hut, machte auf den Fersen kehrt und ging wieder hinaus und die Gasse entlang.
Als nächstes versuchte er es am Eingang zur Bar, aber sie war verschlossen – das Wee Nippy öffnete erst um vier Uhr nachmittags. Frustriert marschierte er die Straße auf und ab – er mußte Bender sehen, er mußte ihn unbedingt sehen –, murmelte vor sich hin, blickte die hohe, sonnenbeschienene Fensterfront empor und zog erneut die Aufmerksamkeit des Türstehers auf sich, der die Schultern nach vorn schob und sein Gesicht zu einer Faust verzerrte. Da fiel ihm Ernest O’Reilly ein.
Klar. Natürlich. Er könnte den Jungen mit einer Nachricht zu Bender hinaufschicken – sie würden sich im Red Onion zum Mittagessen treffen und ein weiteres Mal die Angelegenheit Hookstratten besprechen. Vermutlich hätte er auch telephonieren können, aber er wollte nicht mit dem großkotzigen Empfangschef verhandeln, nur um dann zu erfahren, daß Benders Apparat besetzt war oder daß er nicht da war oder irgend so einen Blödsinn. Nein, Ernest O’Reilly war der Richtige – aber wo war er? Es war ein ganz normaler Schultag, oder? Seitdem er von St. Basil’s weggegangen war, hatte Charlie keinen Schulhof mehr gesehen, und er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo die Brut der Frühstückkoströster, -packer und -bosse Lesen und Schreiben lernte, aber instinktiv schlug er die richtige Richtung ein. Er hastete, eilte, und ein paar gezielte Nachfragen führten ihn zu einem dreistöckigen Backsteinbau in der Green Street.
Es war zehn vor zwölf. Er stand dem Schulhof gegenüber im Schatten eines Baums und kam sich recht auffällig vor. Er zündete eine Zigarette an, schüttelte das Streichholz, bis die Flamme erlosch, sah auf seine Uhr. Eine überirdische Stille hatte sich über das Gebäude und seine Umgebung gelegt, als ob der Ort verzaubert wäre. Nichts rührte sich. Er fragte sich, ob sich so ein Päderast fühlte, und sah wieder auf die Uhr. Er merkte, daß er schläfrig war.
Und dann läutete eine Glocke, und der Schulhof explodierte mit Leben, begleitet von einem wahnsinnigen, heulenden Getöse, das wie das Kriegsgeschrei der Komantschen klang. Plötzlich waren überall Kinder, Beine, Arme, Gebrüll, Schleifgeräusche von Schuhen, aufprallende Bälle, und sie alle sahen gleich aus. Charlie ging auf sie zu, aber sie waren wie eine vorrückende Armee und umzingelten ihn, stürzten sich auf ihn und eilten weiter zu anderen Gefechten und fernen Schlachten. Die Menge lichtete sich, und er hatte schon die Hoffnung aufgegeben, Ernest O’Reilly finden zu können, als er spürte, wie jemand ihn am Ärmel zupfte, genau wie an jenem ersten, weit zurückliegenden Abend im Bahnhof. »He«, sagte Ernest O’Reilly.
Charlie sah, daß er nicht zugenommen hatte. Unter seinem rechten Auge war eine verschorfte Stelle von der Größe eines
Weitere Kostenlose Bücher