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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Silberdollars und eine ebensolche auf seinem nackten Ellbogen. Hemd, Schuhe und Hosen waren zu groß. Seine Augen blickten wachsam. »He«, erwiderte Charlie. »Willst du dir zehn Cent verdienen?«
    »Vierteldollar«, sagte Ernest O’Reilly.
    »Fünfzehn Cent.«
    »Was muß ich tun?«
    Charlie wartete um die Ecke, während Ernest O’Reilly, die schmalen Schultern nach vorn gepreßt, wie ein fliegender Pfeil durch den Hintereingang des Hotels schoß. Er sollte direkt zu Benders Zimmer gehen und ihm die Nachricht übergeben – Komm um 12.30 ins Onion, DRINGEND , hatte Charlie auf einen Fetzen Papier gekritzelt –, und für den Fall, daß Bender nicht da war, sollte Ernest sie an der Rezeption hinterlassen. Fünf Minuten von Charlies Leben verstrichen dort an der Ecke, dann zehn. Gleich wären es fünfzehn Minuten, und Charlies Fingerspitzen begannen weh zu tun vom Auf- und Zudrücken der Taschenuhr, als der Junge endlich wieder auftauchte.
    Er war nicht allein. Charlie war wie vom Donner gerührt, als er sowohl den Türsteher als auch den Portier sah, die Ernest O’Reilly, jeder auf einer Seite, mit ihren aufgedunsenen, fleischigen Händen gepackt hielten, während der Junge mit den Beinen ausschlug, als liefe er auf der Stelle. Charlies Eindrücke waren flüchtiger Natur – das Aufblitzen der nackten weißen Knie des Jungen; der Umschlag, der in seiner Hand flatterte; das Aufleuchten der Augen von Türsteher und Portier, kaum hatten sie ihn, Charlie, ausgemacht; heller, völlig unpassender Sonnenschein –, und dann verselbständigte sich die Szene. »Laufen Sie!« schrie Ernest O’Reilly, und in diesem Augenblick entwischte er den beiden Männern und schoß die Gasse entlang auf Charlie zu, den Umschlag wie einen Staffelstab in der ausgestreckten Hand. Auch Charlie hatte sich in Bewegung gesetzt, obwohl er verwirrt und empört war – wieso waren sie hinter ihm her? Sie waren seine eingeschworenen Feinde, das wohl, aber er befand sich auf einer öffentlichen Straße, oder? Dennoch waren sie da, unleugbar, folgten dem Jungen auf den Fersen, erstaunlich schnell für ihre Stämmigkeit, und auch Charlie spurtete jetzt richtig los, versuchte, die Entfernung zu dem Umschlag abzuschätzen – eine Nachricht von Bender? – und den Augenblick abzupassen, wenn die Affen über den Jungen herfallen würden.
    Es funktionierte nicht. Sie interessierten sich, wie sich herausstellte, überhaupt nicht für den Jungen – oder den Umschlag. Nein: Charlie war es, hinter dem sie her waren. Ihre Stiefel krachten auf das Pflaster wie Hämmer, und wurstgesichtig, schnaubend, überholten sie Ernest O’Reilly mühelos und ließen ihn hinter sich zurück – Charlie hatte keine andere Wahl, als zu laufen, zu laufen, was das Zeug hielt. Er raste über die Straße, wandte sich nach links, lief einen Block mit Geschäften entlang und verduftete dann in eine Gasse zu seiner Rechten. Hier war ein Mietstall, und der Weg wurde blockiert von einem halben Dutzend Droschken in verschiedenen Stadien der Fahruntauglichkeit und Reparatur. Charlie zögerte keine Sekunde. Er flitzte um einen großen roten Wallach, setzte über eine Droschke mit herabgelassenem Verdeck und lief weiter, riß die Knie hoch und bewegte die Schultern im Takt, rannte, weil er verfolgt wurde.
    Und warum? Warum? Was hatte er getan? Es war jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt für deduktive Schlußfolgerungen, die Schritte seiner Verfolger donnerten keine zehn Meter hinter ihm, aber ein schrecklicher Verdacht begann in ihm zu keimen: Bender. Irgend etwas war mit ihm geschehen. Irgend etwas Schlimmes, Unstatthaftes. Etwas, was die Eingeweide von Charlie, Per-Fo und Mrs. Hookstratten herausschneiden und auf eine Leine hängen würde, wo sie die Krähen sauber abpicken könnten.
    Während er weiterlief, schnürte ihm eine Mischung aus Wut und Furcht die Kehle zu, seine Augen fixierten die Hindernisse vor ihm – die offene Tür, das Faß, den Karren. Auf halber Höhe des nächsten Blocks riskierte er einen Blick über die Schulter und sah, daß der Türsteher aus dem Rennen ausgeschieden war. Jetzt waren es nur noch er und der frühere Ringer, und er hörte den Atem des schweren Mannes an seinen Lungen zerren, ein zerrissenes, zerklüftetes Keuchen, das wie Schluchzen klang, wie das winselnde Schreien eines Kleinkinds, nach Schwäche und Zusammenbruch. Abrupt machte Charlie eine Vollbremsung und drehte sich um zu dem Mann, und im nächsten Moment spürte er, wie der Kerl ihm

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