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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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halben Dutzend Pflegern zu entkommen – zweifellos war er auf dem Höhepunkt des Durcheinanders durch eine Hintertür geflohen. Er kannte sich in dem Gebäude aus, das mußte der Doktor ihm lassen.
    Aber es war entsetzlich gewesen. Eine Greueltat. Es war nicht einfach nur eine Peinlichkeit gewesen wie das Betteln um Kleingeld oder das laute Herausschreien von Obszönitäten auf der Straße; es war ein tätlicher Angriff, Brandstiftung, versuchter Mord gewesen. Seit damals suchten Chief Farrington und seine zwölf Hilfssheriffs die Stadt nach ihm ab, kontrollierten den »Penner-Dschungel« unter der South Jefferson Bridge und stießen bis nach Kalamazoo, Olivet und Albion vor. Diesmal würde George ins Gefängnis kommen, und mit Gnade oder mildernden Umständen brauchte er nicht zu rechnen. »Bill«, hatte der Doktor zu Farrington gesagt, »ich habe mit dem Jungen einen Fehler gemacht, einen bedauerlichen Fehler, und es schmerzt mich, es zugeben zu müssen. Er hat etwas Verdorbenes im Blut, etwas Degeneriertes, was bereits die ganze Rasse zu verseuchen droht, und ich will, daß er hinter Gitter kommt, wo er niemandem etwas anhaben kann. Finde ihn, Bill«, fügte der Doktor hinzu, und seine Stimme klang kalt und fest, »ohne Aufsehen und schnell, und während du ihn suchst, denk mal einen Augenblick lang darüber nach, wieviel meine Unterstützung dir und dem Bürgermeister im Lauf der Jahre eingebracht hat.«
    Farrington war kein Dummkopf. Er hatte ihn verstanden, das wohl, daran gab es keinen Zweifel, aber morgen abend wären es zwei Wochen, und George war noch immer auf freiem Fuß. Und diese Tatsache konnte er nicht auf die leichte Schulter nehmen. Der Junge hatte seine Absichten unmißverständlich klargemacht – das war eine offene Kampfansage an John Harvey Kellogg, den Mann, dessen einzige Verbrechen in Mitgefühl, Großzügigkeit und Hoffnung bestanden, den Mann, der ihm die Kleider gegeben hatte, die er auf dem Leib trug, ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen, eine Erziehung, einen Namen, einen Platz in der Welt, und das alles gratis. Es war unvorstellbar, jenseits des menschlichen Fassungsvermögens. Aber mittlerweile war des Doktors Langmut erschöpft – alles, was jetzt zählte, war die Festnahme des Jungen. George hatte sich zu seinem Feind erklärt, aus welchem Grund auch immer – oder aus welchem Mangel an Gründen –, und der Doktor wußte, wie man mit Feinden umging. Der Junge würde keinen Fuß mehr auf den Boden kriegen.
    Aber was ihm angst machte, wie er da steif in seinem Bett lag, was verhinderte, daß das Geräusch des Regens ihn einlullte und sich die verkrampften Nackenmuskeln auf dem Kopfkissen entspannten, was seinen Blick auf das unruhige, gespenstische, undeutliche Muster der Tapete bannte, war die Art und Weise, wie der Junge seine Botschaft übermittelt hatte, die flackernden Zeitungsbälle, die wie Raketen durch die Luft schossen, wie helle Signale des Untergangs. Es lähmte den Doktor, auch nur daran zu denken. Feuer war seine bête noire, das, was er am meisten fürchtete, die einzige Bedrohung, der er sich nicht gewachsen fühlte. Und George wußte es. Wie alt war er gewesen – dreizehn? vierzehn? –, als das San gebrannt hatte? Wie alt er auch gewesen sein mochte, er hatte eine Lehre daraus gezogen. Das war die Art, der Welt einen Schlag zu versetzen, das war die Art, um die zu demütigen, die einem überlegen waren, und das Messer im Herzen seines Adoptivvaters hin- und herzudrehen – dieser heimliche Funke, diese Flamme in der Dunkelheit, das.
    Er lag im Abgrund der Nacht, starrte ins Nichts, und er sah das San vor sich, sein über alles geliebtes San, wie es ausgesehen hatte an dem Tag, als er von einer Vortragsreise nach Hause geeilt war, um nur noch Ruinen vorzufinden – am neunzehnten Februar 1902. Er würde diesen Tag niemals vergessen, den schmerzlichsten Tag seines Lebens, und er würde sich nie verzeihen, daß er im kritischen Augenblick nicht dagewesen war. Am Morgen des Vortags hatte das Feuer gewütet, einen Patienten das Leben gekostet und das Sanatorium und seine ganze Einrichtung, die Experimentierküchen und vibrierenden Stühle, die heizbaren Badewannen und physiologischen Stühle in Schutt und Asche gelegt. Er sah die skelettartigen Überreste der Kamine zwischen den Ruinen aufragen, als wollten sie ihn mit ihrer Standhaftigkeit verhöhnen, die feine weiße Asche lag fast einen Meter hoch und glühte mit einer satanischen Intensität, und alles, was er

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