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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Elemente an, und ihre Anhänger, größtenteils einfache Menschen vom Land, hätten alles getan, damit sich das Wort Gottes erfüllte. Dennoch, George war in jenem Jahr schwierig gewesen, daran gab es keinen Zweifel – noch schwieriger als sonst, da ihn die Pubertät einzwängte wie ein zwei Nummern zu kleines Hemd.
    Zum einen aß er nichts mehr. Er hatte es sich einfach in den Kopf gesetzt, nichts mehr zu essen, und damit basta. Kein Grund, keine Erklärung. In jenem Herbst wachte er eines Morgens auf, setzte sich zusammen mit den anderen Kindern an den Tisch und weigerte sich, sein Frühstück anzurühren. Von den Kinderschwestern wurde erwartet, daß sie mit dergleichen fertig würden, und der Doktor hätte es vielleicht nie erfahren, wenn nicht ein ungewöhnlicher Umstand dafür gesorgt hätte. In der Regel nahmen er und Ella ihre Mahlzeiten in ihren eigenen Räumen ein, der unregelmäßige Tagesablauf des Doktors verhinderte, daß er mit den Kindern aß, was er jedoch auch unter anderen Umständen abgelehnt hätte, weil er ihre Gewohnheiten – das zweimal gekaute Essen, das heimliche Abwischen des Mundes am Ärmel, das unkontrollierte Sabbern und die Tendenz von Soßen, sich in den Mundwinkeln zu sammeln – als seiner eigenen Verdauung abträglich empfand. Aber um diese Zeit – Herbst 1901, ein paar Monate vor dem Brand – experimentierte der Doktor mit neuen Lebensmitteln und hatte es sich angewöhnt, während der Mahlzeiten durch das Eßzimmer der Kinder zu schlendern, um ihre Reaktionen darauf zu beobachten.
    Er war damals in seiner Kuskus-Kohlrabi-Phase, versuchte den Weizengrieß und das Gemüse mit dem hohen Faseranteil zu einem Brei zu vermischen, der, wie die Frühstücksflocken, die er erfunden hatte, zweimal gebacken, getrocknet und mit Stärke versetzt werden konnte und somit leicht verdaulich und in den Ladenregalen länger haltbar war. Die Kinder hatten die Mischung, in Wasser aufgelöst, als Grütze versucht, aber der Kohlrabi verlieh der Mixtur eine komische grüne Färbung und einen erdigen Geschmack, mit dem selbst das fügsamste Kind Schwierigkeiten hatte. Für die folgenden Mahlzeiten wurde sie zu Waffeln gebacken, in klare Gemüsebrühe gerührt, zerrieben und wie Kleie über Kopfsalat gestreut oder in fester Form einem Auberginen-Kürbis-Ratatouille beigegeben. An diesem Abend hatte der Koch, auf des Doktors Vorschlag hin, sie in ein Protoseblatt gewickelt, um sie als Vorspeise mit einer Joghurt-Piccalilli-Soße zu servieren.
    Als der Doktor das Zimmer betrat, blickten alle Kinder gleichzeitig auf und zwitscherten »Guten Abend, Vater«, bevor eine Geste seinerseits sie wissen ließ, daß sie sich wieder ans Essen machen konnten. Er setzte sich in eine Ecke, entfaltete eine Zeitung und widmete sich demonstrativ der Lektüre, damit sie sich entspannten. Tatsächlich jedoch beobachtete er sie, und seine Brillengläser funkelten im Licht des Kronleuchters, wenn er kaum merklich den Kopf nach der einen oder anderen Seite schieflegte, vertraut mit jeder Bewegung der Lippen, jeder Grimasse und jedem Lächeln der Kinder. Er studierte die zwischen Mund und Teller schwebenden Gabeln, die pflichtbewußt fletcherisierenden Kiefer, das Auf und Ab der Adamsäpfel. Die älteren Kinder – die Rodriguez-Jungen, Lucy DuPlage und Nathaniel Hirnes – nahmen beflissen die empfohlene Essenshaltung ein und bewahrten auch dann noch ein vorbildliches Schweigen, als sie ihre Portionen aufgegessen hatten und geduldig auf den Suppengang – Sani-Schildkrötensuppe – und den Nachtisch – gekochte Stachelbeeren mit Grahambrei – warteten. Die Jüngeren hatten, wie zu erwarten war, Schwierigkeiten mit dem Besteck und dem Benehmen im allgemeinen, aber ihre Kindermädchen halfen ihnen, und insgesamt schienen sie durchaus angetan von dem neuen Gericht.
    Einzig George verweigerte das Essen. Er saß steif auf seinem Platz, starrte wie in Trance auf den Tisch. Als sich Hannah Martin, sein Kindermädchen, seitdem er im Alter von sechs Jahren zu ihnen gekommen war, und vielleicht die ihm am nächsten stehende Person auf der Welt, zu ihm hinabbeugte, um zu fragen, was los sei, gab er keine Antwort. Der Doktor, der hinter seiner Zeitung den Vorgang verfolgte, spürte, wie ein ärgerliches Zucken in seiner linken Wange einsetzte: George, immer war es George.
    Das Gesicht des Jungen war ein harter kleiner Brennpunkt der Wut, als sich Hannah Martin zu ihm hinunterneigte und schmeichelnde, aufmunternde Worte murmelte.

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