Willkommen in Wellville
George wollte nicht antworten. Er saß da wie ein Sack Kartoffeln, die Hände in seinem Schoß zu Fäusten geballt. Nachdem er sich das mehrere Minuten angesehen hatte, faltete der Doktor gereizt die Zeitung zusammen und erhob die Stimme. »George?« rief er mit aller ihm zu Gebote stehenden Autorität, und die Kinder sahen zu ihm auf mit unschuldigen Mienen, die Gabeln in der Luft erhoben. »Was ist denn hier los?«
Keine Reaktion.
»George Kellogg«, sprach der Doktor und widerstand dem Drang aufzustehen, »ich rede mit dir, George – nun, wo liegt das Problem?«
Hannah Martin richtete sich auf und warf dem Doktor einen verzweifelten Blick zu. »Ich … äh … ich glaube, er fühlt sich nicht wohl, Sir …«
Dr. Kellogg verfluchte den Jungen im stillen für seine unerbittliche, kindische, sture Widerspenstigkeit. Er war einer, der negativ dachte, war als solcher geboren, und das war nicht zu ändern. Aber genau darin lag die Gefahr: Seine Haltung war subversiv und ansteckend. Wenn man ihm einen noch so geringfügigen Verstoß durchgehen ließe, würden auch die anderen straucheln, und über kurz oder lang würde Zügellosigkeit herrschen. Der Doktor fixierte die affenartigen Augen des Jungen, seinen keilförmigen Kopf mit dem unregelmäßig geschnittenen Haar (offensichtlich hatte er selbst zur Schere gegriffen und den hervorragenden Haarschnitt verunstaltet, den er zweimal im Monat vom Sanatoriumsbarbier erhielt), und er konnte ein Aufflackern des Hasses nicht unterdrücken. Warum war dieses menschliche Wrack in sein Leben getreten? Wie hatten die Schicksalsgöttinnen nur so grausam sein können? Noch immer sitzend, richtete er seine Antwort an das Kindermädchen. »Wenn er sich nicht wohl fühlt, vielleicht sollte ich ihn dann untersuchen? Oder vielleicht braucht er auch nur ein Abführmittel.«
Hannah Martin erwiderte nichts. George saß steif da. Die Kinder hielten kollektiv den Atem an.
Schließlich stand der Doktor seufzend und schwerfällig auf, legte die Zeitung weg und ging den Tisch entlang, bis er direkt hinter dem Jungen zum Stehen kam. »Nun, George«, sagte er und legte eine Hand auf die Schulter des Jungen, während Hannah Martin erbleichte und die Kinder in der Ungewißheit des Augenblicks ausharrten, »was soll es denn sein? Kalomel? Rizinusöl? Oder hören wir jetzt auf mit dem Unsinn und fangen mit dem Essen an?«
George schien in sich zusammenzuschrumpfen; die Berührung des Doktors fraß sich wie Säure durch seine Haut, alle starrten ihn an, das Haus war in ein Loch absoluten Schweigens gefallen. Langsam, Zentimeter um Zentimeter, hob sich das spitze kleine Kinn bis auf Schulterhöhe, und dann sah er den Doktor aus den schwarzen Löchern seiner Augen an. »Essen?« würgte George heraus. »Nennst du das Essen?«
Der Doktor war wie vom Donner gerührt. Er mußte sich beherrschen, damit ihm nicht die Hand ausrutschte, damit sie sich nicht mit der ganzen unerwarteten, wütenden Kraft von Muskel, Sehne, Knochen in das kümmerliche kleine Gesicht krallte.
Aber George war noch nicht fertig, längst noch nicht. »Fleisch und Kartoffeln, das wollen wir«, schrie er. Die noch ungeformte Stimme schnappte auf einmal über, und er wandte dem Doktor den Rücken zu, als käme es auf ihn gar nicht an, und warf einen wilden, siegestrunkenen, triumphierenden Blick in die Gesichter seiner Adoptivbrüder und -Schwestern. »Fleisch und Kartoffeln!« schrie er, nahm seine Gabel und schlug auf seinem Teller den Takt, »Fleisch und Kartoffeln, Fleisch und Kartoffeln!«
Alle anderen sahen zu, baff und mit bleichen Gesichtern, bis auf einen Jungen, einen Neuankömmling aus West Virginia, nicht älter als fünf oder sechs Jahre, mit einem Struwwelkopf und einem offenen Gesicht. Als wäre es ein Spiel, nahm auch er seine Gabel und schlug mit George den Takt, und seine feine, engelgleiche Stimme schrie nach »Fleisch und Kartoffeln, Fleisch und Kartoffeln!«
Niemand hätte dem Doktor einen Vorwurf gemacht, wenn er dem Ganzen ein rasches und handgreifliches Ende gesetzt hätte, aber er war kein gewalttätiger Mann – würde nie ein gewalttätiger Mann sein, würde sich nicht von tierischen Trieben beherrschen lassen –, und er hielt sich zurück. Wie aus Messing gehämmert, wie im Boden verwurzelt, die Brillengläser gleißend im Licht, stand er reglos da, bis der Struwwelkopf sich seiner bewußt wurde und mitten im Satz seinen Singsang unterbrach, bis Hannah Martin nach Georges Arm griff und die anderen
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