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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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betrachtete ihre Beine, während sie zuerst auf dem einen Fuß stand, um in die Liebestöter zu schlüpfen, dann auf dem anderen, und ihre Brüste wackelten dank der Anziehungskraft der Erde, bis sie der Stoff des Kleides verhüllte, und auch das erregte ihn – sie trug nichts darunter, nichts als ihre Liebestöter. »Ich … ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, Will«, setzte sie an, und noch immer blickte sie ihm nicht in die Augen, strich eine Falte an der Taille glatt, zog ihren Kragen zurecht, und ihre Stimme klang dumpf, als käme sie aus dem Grab. »Es war Freikörperkultur, es war Therapie, es war – es war falsch, zutiefst falsch –« Ihre Stimme versagte. Ihre Augen waren naß.
    Er bedeutete ihr, still zu sein. Nahm ihre Hand, aber diesmal zärtlich, ganz zärtlich. »Wir werden nicht darüber sprechen«, sagte er, und er konnte kaum mehr atmen. Die Bäume ragten über ihnen auf, verästelt, schattig, Gliedmaßen, Finger, Blätter. »Wir werden nie darüber sprechen, nie wieder, nie«, sagte er und führte sie den Pfad entlang und aus dem Wald hinaus.
     
    Zur gleichen Zeit saß Charlie Ossining wie ein Häufchen Elend auf der Treppe vor Chief William Farringtons grau-weißem, mit Schindeln bedecktem Haus am anderen Ende von Battle Creek. Die Sonne brannte auf ihn herunter, aber er bemerkte es kaum. Seine Hände waren gefesselt, sein Nacken gebeugt wie der eines Bittstellers, und er starrte unentwegt auf den Boden. Die großen, schwarzen, dicksohligen Schuhe der beiden Hilfssheriffs, die neben ihm standen, jeder auf einer Seite, waren die einzigen Objekte in seinem Sichtbereich abgesehen von den Ameisen, die selbstvergessen die Stufen hinaufkrochen, und während die Minuten vergingen, sank er immer tiefer in sich zusammen. Alles, woran er denken konnte, alles, worauf sich sein Körper und sein Verstand konzentrieren konnten, trotz der Umstände und wider alle Vernunft, war Flucht. Wenn ihn die Hilfssheriffs – Männer mit offenen Gesichtern, denen die Situation nahezu so peinlich war wie ihm selbst – nur für eine Sekunde allein lassen würden, um eine Tasse Kaffee zu holen oder ein Stück von Mrs. Farringtons Rhabarberkuchen … Er starrte auf die Schuhe, starrte auf die Ameisen und sah sich selbst davonlaufen, über Hecken springen und sich in Seitenstraßen verlieren, mit windzerzaustem Haar, während Battle Creek, Per-Fo, Kellogg, Mrs. Hookstratten und alles übrige sich hinter ihm in Luft auflösten. Um ein Haar wäre er auf der Stelle aufgesprungen, aber er beherrschte sich – er würde – wenn überhaupt – nur eine einzige Chance bekommen, und er konnte es sich nicht leisten, die zu vertun.
    Chief Farrington war drinnen im Haus, am Telephon, und versuchte den Transport zum Bezirksgefängnis in Marshall zu organisieren, mit dem Charlie dank seines Umgangs mit George nur allzu vertraut war – zwei Zellen, keine Fenster, schwere Eisentüren, die mit einem Geräusch der Endgültigkeit und des Untergangs ins Schloß fielen. Er konnte die Stimme des Mannes hören, geduldig, mit ländlichem Akzent, als er ins Telephon sprach, nach Walter, Isaiah oder Clinton fragte, versuchte, ein Fahrzeug aufzutreiben an einem Tag, an dem die ganze Stadt die Parade sehen wollte. Keiner der Hilfssheriffs sagte ein Wort. Die Sonne brannte herunter. In der Ferne hingen glorreiche Musikfetzen in der Luft.
    Als er schließlich aufblickte, aus Langeweile und weil er sich elend fühlte und weil er noch immer allen Möglichkeiten gegenüber offen war trotz des Ausdrucks absoluter Niederlage, den er für seine Häscher aufgesetzt hatte, starrte er in die Augen eines Jungen im Nachbarhof. Er konnte nicht älter als sechs oder sieben sein, dieser Junge, und er trug ein sauberes, gestärktes weißes Hemd, Kniehosen aus Kordsamt und eine Jacke aus dem gleichen Material. Der Art nach zu urteilen, wie er Charlie anstarrte, wie sich der Fokus seiner Welt so einengte, bis er nur noch die Stufe vor dem Haus des Polizeichefs umfaßte, hätte man glauben können, Charlie sei Jesse James oder William Bonney höchstpersönlich. Der Junge sah nicht weg, als Charlie aufblickte, und das stimmte ihn traurig, verletzte ihn auf eine Weise, wie ihn nicht einmal Kellogg zu verletzen vermocht hatte. War er nur noch ein Monster, eine Attraktion, eine weitere Kuriosität für einen Jungen auf dem Weg zur Parade? Charlie mußte wegsehen, und er erinnerte sich daran, wie er selbst in diesem Alter gewesen war und wie er und seine

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