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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Freunde sich am Sonntag nach der Kirche trafen, um sich anzusehen, wie man die Betrunkenen vom Samstag abend aus dem Gefängnis entließ, und an den Nervenkitzel, den es ihm bereitet hatte, diesen unglückseligen Männern, diesen Kriminellen mit ihren zwei Tage alten Bärten und der schlampigen Kleidung so nahe zu sein, Männern, die verwirrt ins helle Sonnenlicht blinzelten. Ja. Und jetzt war er einer von ihnen.
    Eine Stunde verging. Zwei. Der Chief telephonierte nicht mehr – im Haus war alles ruhig, und Charlie vermutete, daß er nach oben gegangen war, um ein Nickerchen zu machen –, und Mrs. Farrington, eine Frau mit dicken Knöcheln und einem aufgeschwemmten, geröteten, argwöhnischen Gesicht, war zweimal herausgekommen, um den Hilfssheriffs »ein Glas schönes kaltes Wasser« und »ein Glas schöne kalte Limonade« anzubieten, was beide beide Male annahmen. Charlie bot sie nichts an. Er saß auf der Treppe, als wäre er aus einem Samenkorn gesprossen, während die Sonne am Himmel weiterzog und die Hilfssheriffs sporadisch miteinander redeten in geflüsterten, unzusammenhängenden Sätzen. Schließlich, gegen vier – das mutmaßte Charlie nur; Uhr, Brieftasche und Ringe waren ihm vom Chief abgenommen worden –, fuhr ein offenes Fuhrwerk vor dem Haus vor, gezogen von zwei grobschlächtigen, unruhigen Pferden.
    Fast im gleichen Augenblick ging die Fliegentür auf, und Chief Farrington kam aus dem Haus, faßte Charlie so beiläufig am Arm, als würde er auf dem Weg zum Brunnen einen Eimer aufheben, und zog ihn von der Treppe hoch. Als kleine Gruppe gingen sie über den Rasen, Charlie und der Chief voraus, die beiden Hilfssheriffs schwerfällig hinterher.
    Der Mann, der die Zügel hielt, trug einen Zylinderhut und ein altmodisches Jackett, das an den Nähten vom Alter gezeichnet war. Er war offensichtlich ein Farmer, herausgeputzt für den Ausflug in die Stadt, und er blickte düster unter der Krempe seines Hutes auf sie herab. »Isaac«, sagte der Chief und nickte zur Begrüßung, und der Mann antwortete mit einer einzigen kurzen Silbe, Teil eines Rituals, und einem Nicken: »Bill.«
    Der Chief führte Charlie nach hinten zum Wagen, der mit Stroh und Erdklumpen und zerrissenem Sackleinen bedeckt war, und der größere der beiden Hilfssheriffs, der mit dem Gesicht wie das Hinterteil eines Tieres, das für gewöhnlich auf der Weide steht, half ihm hinauf. Farrington stieg vorn auf und setzte sich neben den Kutscher, die zwei Hilfssheriffs krochen zu Charlie nach hinten auf den Wagen und machten es sich mit kaum gedämpften, genüßlichen Seufzern auf dem Stroh bequem, und schon setzten sie sich in Bewegung. Als sie sich vom Haus entfernten, warf Charlie einen Blick auf den Jungen im Nachbarhof, der noch immer reglos und geduldig zu ihm hinstarrte.
    Die Bäume zogen über ihren Köpfen vorbei. Schatten verfolgten sie, eine Brise kam auf, die Sonne versteckte sich hinter Ästen und kam dann wieder zum Vorschein. Ein paar Meter weiter lag ein Hund auf dem Rasen vor einem großen, hochaufragenden, ordentlich instand gehaltenen Haus und hob den Kopf, warf ihnen einen schläfrigen Blick zu und ließ den Kopf wieder sinken. Auf den Straßen war es still. Totenstill. Und das war ein Segen, denn Charlie kannte diese Straßen, kannte die unerschütterlichen, friedlichen Reihen frischgestrichener Häuser und das geordnete Leben, das sich in ihnen abspielte. Er hatte ein Stück von diesem Wohlstand gewollt, hatte gewollt, was dazugehörte, einen Daimler und einen Billardtisch und eine Frau wie Eleanor Lightbody – und war das so schlimm? War das ein Verbrechen?
    Das schlecht gefederte Fuhrwerk sackte jäh ab und schaukelte wieder nach oben, und Charlie spürte den harten Schlag am Steißbein und verlagerte, obwohl es ihm nicht leichtfiel mit den gefesselten Händen, seine Position. Die Hilfssheriffs kümmerten sich nicht um ihn. Sie lagen ausgestreckt auf dem Stroh, ihre Augen zu Schlitzen verengt, kauten an Grashalmen und hatten es so gemütlich, als befänden sie sich zu Hause in ihren Betten. Und was kümmerte er sie auch? Sie gingen nicht ins Gefängnis, sie waren nicht von Gott und der Welt verlassen. Er spürte, wie sich bei diesem Gedanken sein Magen verkrampfte. Einen schrecklichen Augenblick lang sah er alles vor sich, die Anwälte in ihren schicken Anzügen, die empörten Zeugen, die gegen ihn aussagten, die Freiheitsstrafe, die er mit Jahren und Monaten seines jungen Lebens bezahlen mußte, die graue

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