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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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einen Schluck zu genehmigen, und Charlie war plötzlich ungeduldig, wütend – er wollte die Handschellen los haben, und zwar sofort. »Hier«, sagte George und streckte ihm die Flasche hin, »du brauchst was zu trinken.«
    Was sollte er tun – ablehnen? George grinste ihn mit verrotteten Zahnstummeln anzüglich an, sein Atem stank wie etwas Totes, und er schwenkte die Flasche in der Luft, eingehüllt in die Schwaden seines katastrophalen Geruchs. Halt ihn bei Laune, sagte sich Charlie, halt ihn bei Laune. Er umklammerte die Flasche mit den Händen – eine Halbliterflasche einer Marke, die er nicht kannte – und trank. Augenblicklich spürte er die Hitze in sich, die Wirkung des Alkohols, aber da war noch etwas anderes, ein bitterer, erdiger, schlammiger Geschmack. Vor sich Georges glühende Augen und sein zustimmendes Nicken, nahm er noch einen Schluck und merkte, wie sehr er es gebraucht hatte. »Donnerwetter!« sagte er.
    George grinste leichenhaft. »Ich hab ’nen ganzen Kasten davon, dort neben dem Ofen – wir werden uns heute nacht bewußtlos saufen, Charlie, nur du und ich.« Er nahm die Flasche, hob das Kinn, so daß es zum Himmel zeigte, und ließ den Adamsapfel hüpfen. »Es gibt was zu feiern«, sagte er und wischte sich den Mund mit einem völlig verdreckten Handrücken ab. »Heute ist meine letzte Nacht in Battle Creek.«
    Charlie stand unter der fetten, reifen, untergehenden Sonne, seine Hände aneinandergefesselt, seine Träume zerstört, und machte Konversation mit einem Betrunkenen. Weil er nichts Besseres zu tun hatte, griff er nach der Flasche. »Weißt du, ich muß diese Handschellen wirklich loswerden, George«, sagte er und nahm einen kräftigen Schluck. Und dann begann er grundlos zu lachen. Es war einfach alles viel zu lächerlich.
    »Klar«, sagte George, aber er wirkte zerstreut. »Willst du mich nicht fragen, wohin ich gehe?«
    »Wohin gehst du?«
    Die gelben Zähne, der stinkende Atem, das hohe, gellende, bellende Lachen. »Ich weiß es nicht. Aber ich will verdammt sein, wenn ich noch eine Nacht in diesem Scheißloch verbringe.« Er schlurfte vorwärts, blieb wieder stehen. »Einen kleinen Besuch muß ich noch machen, bevor ich gehe«, brummelte er, und sein Blick war wieder kalt geworden. »Du sagst, mein Vater hat dir die verpaßt?« lallte er, tippte auf die Handschellen und nahm mit derselben Bewegung Charlie die Flasche ab.
    Es dauerte eine Weile, bis Charlie alles erklärt hatte, und sie hatten die zweite Flasche fast ganz geleert, bis George die Rolle seines Adoptivvaters bei der Komplizierung von Charlies Leben vollständig begriff, obwohl Charlie versuchte, so sachlich wie möglich zu erzählen und den Schrecken und die Wut niederzukämpfen, die seine Eingeweide zerfraßen. Eine Zeitlang hatte nur Charlie gesprochen, während George, abgesehen von einem gelegentlich als eine Art Interpunktion eingeworfenen Epitheton, geschwiegen und in die Ferne gestarrt hatte. Die Schatten hatten sich eingeschlichen, um die Mauern niederzuwerfen, und das letzte Sonnenlicht fiel auf den Wald, der aus der Ruine hervorwuchs. Sie lagen Seite an Seite ausgestreckt auf dem Unkraut. Nachdem Charlie seinen Bericht beendet hatte, herrschte für eine lange Zeit Schweigen; er überbrückte es, indem er sich erneut einen Schluck genehmigte. Schließlich setzte George sich auf, hustete in seine Faust und bemerkte: »Er ist ein Gemütsmensch, was, der Heilige vom Hügel? Ein richtiger Gemütsmensch.« Dann stand er seufzend auf und ging in die Büsche, um sich zu erleichtern.
    Charlie horchte auf die Vögel und die Zikaden und den heftig plätschernden Strahl von Georges Blasenentleerung, ein weiteres Geräusch der Natur, einer Natur, mit der er zumindest für eine Weile sehr vertraut werden würde, und er drückte die Flasche an die Brust. Bisweilen vergaß er seine Lage, döste auf den Wellen des Alkohols minutenlang ein, die Handschellen spürte er kaum mehr, sie waren nichts, eine kleine Unannehmlichkeit – waren nicht allen die Hände gebunden? –, und dann kehrte George mit einer verrosteten Metallstange in der Hand zurück. Sie war ungefähr einen halben Meter lang, vor Rost dunkel wie Blut – sie mochte einst ein Hebel oder eine Verbindungsstange eines wichtigen, beweglichen Maschinenteils gewesen sein, einer Dreschmaschine, eines Siebs, oder sogar von einem der großen Öfen stammen.
    »Komm hier rüber«, befahl George, und er führte ihn durch die Ruine zu dem nächsten der riesigen Öfen.

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