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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Achselhöhlen, um die Handschellen zu verbergen, aber er spürte ihren Blick auf sich, bis er das Ende des Blocks erreicht hatte.
    Es hatte keinen Zweck. Er spürte, wie Panik in ihm aufkam – er wollte rennen, mußte rennen, das Leben hatte keinen Grund oder Sinn, wenn man nicht Beine und Füße gebrauchen konnte, nicht schnell und sicher wie ein Pfeil entkam, in die Freiheit, die Sicherheit. Er konnte nicht über die Straßen schlendern, als wäre er unsichtbar – in zehn Minuten hätten sie ihn. Was dachte er sich nur dabei? War er verrückt geworden? Gewiß hing die alte Dame schon am Telephon. Er sah verdächtig aus, das wußte er, Schweiß lief ihm übers Gesicht, Gras und Fusseln klebten an seinem Anzug, sein Hut war weg – und das verriet ihn sofort, verriet ihn todsicher. Wer außer einem entflohenen Verbrecher spazierte ohne Hut durch die Straßen? Er war jetzt in einen leichten Trab verfallen, reckte den Hals, um links und rechts einen Blick über die Schulter zu werfen wie eine tollgewordene Färse mitten in einer Stampede, zum Untergang verdammt, so gut wie zum Untergang verdammt.
    Und in diesem Augenblick, gerade als er zusammenbrechen wollte, tauchte die rettende Architektur vor ihm auf. Gerade als er jegliche Selbstbeherrschung aufgeben und sich heulend die Straße hinunterstürzen wollte, machte er etwas Vertrautes aus – hoch aufragend, groß, von Sonnenlicht überflutet, eine breite Treppe, aus dem Himmel geschnitten wie eine Pyramide im Profil. Und was war das? Er kannte doch das Gebäude, nicht wahr? Taumelnd, hastend, niemand war zu sehen, bog er um die Ecke – und da stand sie: die Ruine der Malta-Vita-Fabrik.
    Ein Durcheinander von Ziegeln, Mauern ohne Dach, schief hängenden Balken, die großen, verrosteten dreistöckigen Überreste der Öfen, die ihn über die Baumwipfel hinweg herangewunken hatten: Nichts hatte sich verändert seit jenem bitteren Novembernachmittag, als er hier gestanden und den ersten Nagel in den Sarg seiner Hoffnungen geschlagen hatte. Oder doch? Als er mit rasendem Puls betont langsam die verlassene Straße überquerte, unauffällig, ein anständiger Bürger auf einem Feiertagsspaziergang, bemerkte er, daß alles irgendwie anders aussah, weicher, nahezu einladend. Und dann begriff er: Es war Frühling geworden. Wo die feuergeschwärzten Mauern nackt aus der öden Erde aufgeragt hatten, Zeugnisse der Vergeblichkeit, waren sie jetzt mit Laub, Knospen, Halmen und Kletterpflanzen gepolstert. Wiesenblumen schmückten den morschen Eingang, zwei Meter hohe Schößlinge sprossen aus den Rissen im Boden des ehemaligen Verpackungsraums. Vor sechs Monaten hatte ihn die Ruine deprimiert, ihn bis ins Mark erschüttert; jetzt war sie seine Zuflucht. Kein Grund für philosophische Betrachtungen: Er kauerte sich hinter die Wand und war in Sicherheit.
    Lange Zeit lag er auf dem Rücken auf einem Bett aus Sumach, sah den Schwalben zu, die ständig ihre Nester in den Öfen anflogen, sein Herzschlag beruhigte sich, der Nachmittag ging sanft in den Abend über. Hier würden sie ihn nicht suchen. Sie würden auf den Straßen suchen, in den Straßengräben, sie würden den Güterbahnhof durchkämmen und den Hauptbahnhof, den Abfall hinter dem Red Onion durchstöbern und einen Mann vor dem schäbigen Haus postieren, in dem er ein Zimmer gemietet hatte. Hier war er sicher. Wer würde die Ruine überhaupt bemerken? Wer wußte überhaupt von ihr? Sie war ein Schandfleck, ein Denkmal des Scheiterns, die Art Gebäude, das die Größte Kleinstadt in den USA am liebsten sofort vergessen würde.
    Im Augenblick war er sicher, aber was nutzte ihm das? Seine Hände waren gefesselt, er war tausend Meilen von New York entfernt, hatte keine Brieftasche, kein Geld, keine Uhr, nichts zu essen. Und er hatte Hunger, verspürte das erste brennende Stechen eines Bedürfnisses, das seine Eingeweide selbst jetzt drangsalierte. Am Morgen hatte er in einem Gasthaus ein Ei mit Toast verspeist, er war zu aufgeregt gewesen angesichts dessen, was ihn erwartete, um viel essen zu können, und die Matratzenfüllung, die sie zum Mittagessen aufgetischt hatten, hatte er mehr oder weniger nur auf seinem Teller umarrangiert. Das Mittagessen. Der Gedanke daran ließ ihn erneut schneller atmen, brachte seine Kopfhaut zum Jucken und schnürte ihm die Kehle zu – wie sich die Welt verändert hatte seit dem Morgen, wie alles, was golden geglänzt hatte, zu Scheiße geworden war. Und war es erst diesen Morgen gewesen? Es kam

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