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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Zeitsplitter hatte er sie ganz für sich allein, während sich vor den Fenstern die Stimmen all derer, die er innerhalb dieser Mauern versammelt hatte, kräftig und jubilierend erhoben.
    Und da geschah es, während der Doktor vor seinen Papieren saß und sich einen Moment lang die Genugtuung gestattete, auf das, was er erreicht hatte, stolz zu sein, während sein Geist sich daran weidete und ein Gefühl höchsten Wohlbefindens wie ein Stärkungsmittel in seine Adern sickerte, da geschah es, daß ihm ein Geruch in die Nase stieg. Ein chemischer Geruch, der strenge Geruch nach Petroleumdestillaten, der Geruch nach Treibstoff, Kerosin, nach alten Lampen mit Schirmen aus Glas und niedergebrannten Dochten. Und woher konnte er stammen? War es ein Trick, den die Erinnerung ihm spielte, ein nostalgisches Echo? Seit den Tagen des Western Health Reform Institute hatte er keine Kerosinlampen mehr in Gebrauch.
    Neugierig stand er vom Schreibtisch auf, schob den Augenschirm aus Zelluloid zurück bis zum Haaransatz und ging durchs Zimmer zur Tür. Als er den Türknauf ergriff, merkte er, wieviel stärker der Geruch hier war, und als er die Tür öffnete und in den Flur hinaustrat, erstickte er fast daran. Das war doch merkwürdig: Der Fußboden, der Fußboden aus italienischem Marmor, den er selbst nach einem Entwurf von Favanucci ausgesucht hatte, schien naß zu sein, als hätten ihn die Putzkräfte nicht richtig aufgewischt, oder als – aber er blieb wie angewurzelt stehen. Er war tatsächlich naß. Er strich mit einem Finger über den Boden und hielt ihn an die Nase: Kerosin. Den Geruch würde er unter allen anderen Gerüchen herauskennen.
    Und dann, als er verwirrt aufblickte, sah er Augen und Zähne der schlimmsten Heimsuchung seines Lebens vor sich, eines Wirklichkeit gewordenen Alptraums – George trat von der Schwelle des nächsten Büros und lehnte sich nonchalant an die Wand. George. In seiner Hand ein Streichholz. Ein einzelnes dünnes, unauffälliges Holzstäbchen mit einem feuerroten Phosphortupfer an der Spitze. Diesmal gab es kein gekünsteltes Lächeln, kein spöttisches Grinsen. Da war nur der schüttere Stoppelbart des jungen Mannes, der grimmige Schlitz des Mundes und die Augen, schwarz wie der Rand des Universums, so schwarz, daß sie alles verfügbare Licht in sich aufzusaugen und auszulöschen schienen. Und das war noch nicht alles: Hinter ihm, am Ende des Flurs, lag, wie zufällig umgekippt, ein Fünf-Gallonen-Kanister mit Kerosin, dessen glänzender Inhalt herausblutete auf den glitschigen Boden. »Dr. Gemüse«, feixte George. »Dr. Anus. Weißt du, warum ich hier bin?«
    Der Friede, den er in seinem Büro verspürt hatte, die Schönheit des Abends und der süße Klang der Lieder, die ganze Hochstimmung, die er empfunden hatte, weil er diesen Ossining, diesen Kriminellen, in die Falle gelockt und Amelia Hookstratten aus seinem Bann befreit hatte, all das löste sich in diesem Augenblick auf. Dieser Farrington sollte verdammt sein, dachte er wütend und schwor sich, ihn von seinem Posten entheben zu lassen – warum waren er und seine zwölf übergewichtigen Hilfssheriffs nicht in der Lage gewesen, George unter dem Stein auszugraben, unter dem er sich verkrochen hatte? Er rührte sich nicht. Atmete nicht. Sah einfach nur in Georges Augen, in die Augen seines Sohnes.
    »Weißt du’s?« Georges Stimme hallte in dem ölglatten Korridor wider, das verhaßte, altbekannte pubertäre Winseln schlich sich ein trotz der zwanzig sinnlos vertanen Jahre seiner jungen Männlichkeit.
    Der Doktor sagte nichts. Er spannte die Muskeln an. Sollte er reden, sollte er wüten – er war bereit, sich auf ihn zu stürzen, um sein Leben zu kämpfen und das Leben von Battle Creek, war bereit, alles zu tun, alles, was nötig war, um dieses Insekt zum Schweigen zu bringen, zu zertreten, ein für allemal auszumerzen. Alles.
    George stieß sich plötzlich heftig von der Wand ab, und in seinen Augen explodierte der Haß. »Ich bin hier, weil ich dir eine Lektion in Geschichte erteilen will, Dr. Anus, deswegen bin ich hier – ich bin hier, um aus deinem Leben die gleiche Jauchegrube zu machen, die du aus meinem gemacht hast, ich bin hier, um dir deinen Zwieback und deine Klistiere und alles andere ein für allemal in den Hals zu stopfen.« Er hob das Streichholz an ein Auge und sah daran entlang, als wäre es ein Gewehr. »Ich werde dieses Haus bis auf die Grundmauern abbrennen«, zischte er, und er erstickte fast an seiner Wut,

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