Willkommen in Wellville
Und dann, während Charlie die Kette spannte, die seine Hände band, sie über einer vorspringenden Kante strammzog, hob George die verrostete Stange und schlug mit einer intensiven, unversöhnlichen, rhythmischen Wut auf die Kette ein, schlug und schlug, bis das Gemäuer vom Echo des Lärms widerhallte und die Kette abprallte, hüpfte, sich wand und schließlich nachgab. Um das zu feiern, tranken sie.
»Du bist ein freier Mensch, Charlie«, sagte George zwischen zwei Schlucken. Die Anstrengung schien ihn ernüchtert zu haben. »Aber hör mal, ich muß noch was erledigen – für uns beide. Du wartest hier – und trink von dieser Brühe, soviel du willst, hat mich keinen Pfennig gekostet, hab’s gefunden, könnte man sagen, in einem Waggon im Güterbahnhof. Ich werd’ spät zurückkommen, nach dem Feuerwerk, und dann werden sie auch hinter mir her sein –« Er hielt inne und schien sich an dem Gedanken zu weiden. »Darauf kannst du wetten, daß sie dann auch hinter mir her sein werden.«
Charlie hatte keine Einwände. Er konnte nirgendwohin gehen, und er hatte es nicht eilig, dorthin zu kommen. Er hätte gern etwas gegessen, aber das Elixier in der Flasche hatte seinen Magen beruhigt, seine Wunden gekühlt und seinen Kopf mit Watte gepolstert. Er würde trinken, trinken bis zur Bewußtlosigkeit. Er machte es sich im Gras bequem. »Was, sagtest du, ist das für ein Zeug?« fragte er und kniff die Augen zusammen, um das Etikett lesen zu können.
George stand jetzt vor ihm, eine zerlumpte Gestalt vor dem leuchtenden Hintergrund des Himmels. Das Haar stand wild von der dunklen Kugel seines Kopfes ab, seine Rockschöße hingen in Fetzen herunter. Er sah düster aus und alt, älter als Charlie, älter als irgend sonstwer. »Lies das Etikett«, sagte er, und schon setzte er sich in Bewegung, schon handelte er, war unterwegs zu was immer es war, was er tun mußte, um der Lebensmittelstadt, USA, angemessen adieu zu sagen – Charlie fragte ihn nicht danach, wollte es nicht wissen –, aber er trat noch einmal einen Schritt zurück, blieb einen Augenblick am Rand der Dunkelheit stehen und fügte hinzu: »Der größte Betrug, den man sich vorstellen kann. Sie kriegen einen Dollar pro Flasche für diesen Dreck, kaum zu glauben.« Und die Schatten verschluckten ihn, und er war verschwunden.
Charlie stellte die Flasche auf seiner Brust ab und studierte das Etikett: Lydia E. Pinkhams Gemüsetrank, las er, Heilung von Prolapsis Uteri und allen Frauenleiden garantiert. Er war wie vom Donner gerührt. Vor den Kopf gestoßen und perplex (oder zumindest so vor den Kopf gestoßen und perplex, wie man es von einem zu drei Vierteln betrunkenen Ex-Tycoon, der von der Polizei gesucht wurde und ein frisch getrenntes, zusammenpassendes Paar Armreife trug, erwarten konnte). Während der letzten Stunde hatte er patentierte Medizin getrunken, ohne daß ihm irgend etwas aufgefallen wäre, abgesehen von dem schwachen Wurzelgeschmack der Brühe, einem Geschmack, der nicht schlechter oder besser war als das leichte Aroma nach Eiche in einem guten Kentucky-Bourbon. Enthält 15 Prozent Alkohol, las er und nahm einen weiteren Schluck, beigefügt als Lösungs- und Konservierungsmittel.
Je nun. Natürlich bloß deshalb. Er nahm noch einen Schluck. Fünfzehn Prozent Alkohol, und sie überfluteten den Markt damit als Arzneimittel für Frauen – und kriegten obendrein einen Dollar pro Flasche. Dahinter steckt Genie, dachte er, als Venus im Osten sichtbar wurde und sich der Himmel tief kobaltblau färbte, Genie von der Art des Erfinders der Gedächtnistabletten. Er trank nachdenklich einen weiteren kräftigen Schluck, während sich die Nacht, warm wie eine Decke, um ihn legte, und irgendwann zwischen dem Moment, als sich seine Lippen um die gläserne Öffnung schlossen, und dem Augenblick, als das heiße Zeug unfehlbar das angenehm wärmende Feuer in seinem Magen wieder anfachte, erlebte er einen Augenblick der Gnade.
Per-To, sagte er zu sich selbst, und er sagte es laut. Das perfekte Tonikum. Selbstverständlich sellerieimprägniert. Er fragte sich, ob er es auch »peptonisiert« würde nennen können, fragte sich flüchtig, was »peptonisiert« überhaupt bedeutete, und dann entschied er sich dagegen. Nun, egal, dann war es eben nicht peptonisiert – er hatte etwas anderes gefunden, etwas viel Besseres. Es machte doch trotzdem das Blut aktiv, nicht wahr? Und warum sich mit fünfzehn Prozent Alkohol zufriedengeben, wenn es dreißig sein könnten
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