Willkommen in Wellville
ihm vor, als seien es zehn Jahre her.
Die Sonne schien auf ihn herab, wiegte und umarmte ihn, und wider Willen döste er ein. Als er aufwachte, war es, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen – die Sonne schien fest an der Wand über ihm zu hängen, und er schätzte, daß es halb sechs, sechs sein mußte. Vögel erfüllten die Luft mit sirupsüßem Gezwitscher, Zikaden zettelten eine Verschwörung an, nichts zu hören von Hilfssheriffs, Hunden oder dergleichen, nichts hatte sich verändert. Er war noch immer gefesselt, noch immer hungrig, noch immer auf freiem Fuß. Wenn er hier wegging, dann nur im Schutz der Dunkelheit und nur zu einem einzigen Zweck: Um sich irgendwo in eine Werkstatt zu schleichen und sich mit Hammer und Meißel davonzustehlen. Er sah sich hierher zurückkehren, vielleicht würde er sich kurz absentieren, um irgendwo etwas zu essen zu klauen – aus einer Räucherkammer, einer unverschlossenen Küche, aus dem Abfall sogar –, aber er würde immer wieder hierher zurückkommen, um zwischen den geschwärzten Mauern zu sitzen und zu warten, bis sie vergessen hatten, daß es ihn gab …
Aber was war das?
Er preßte sich auf den Boden. Hielt den Atem an.
Eine Stimme, eine menschliche Stimme, rauh und heiser, sprach zu sich selbst – oder nein, sie sang:
Mit den Vögeln in den Bäumen
Ist so wunderbar zu träumen.
Weht ein Lüftchen noch dazu,
So frage ich, und wo bist du?
Nach des Tages harter Arbeit
Ist das Leben voller Freiheit!
Brüchig, betrunken, obszön erhob sich die Stimme über den Text, als ob sie ihn vergewaltigte, ihn ausweidete, von innen nach außen kehrte, und dann gab es eine Pause, und anschließend wiederholte sie die Verse, einmal, zweimal und ein drittes Mal. Charlie lag da, eingehüllt in einen Kokon der Angst, er wagte kaum zu atmen, und erst bei der vierten Wiederholung wurde er sich bewußt, daß das Schicksal es gut mit ihm meinte. Das war kein gewöhnliches Konzert, kein gewöhnlicher Betrunkener – George, es war George. Natürlich, er war es. Da niemand mehr die Miete zahlte, hatte ihn Mrs. Eyvindsdottir auf die Straße gesetzt, und er war zurückgekehrt in sein Elendsquartier neben den Öfen. Klar, so war es. Wohin sollte er sonst?
Die Erkenntnis gab Charlie Kraft, flößte ihm neuen Mut ein – George würde ihm helfen. Wenn es in dieser gottverlassenen, dollarsüchtigen, rechtschaffen lebenden Stadt eine Person gab, die in der Lage wäre, ihn herauszuboxen, dann war es George. Charlie stand vorsichtig auf und stahl sich auf Zehenspitzen aus seinem Versteck und über den Unrat in Richtung des Lärms. Er fand George auf einem Haufen kaputter Maschinenteile lümmelnd vor, eine Flasche zwischen den Beinen, das Gesicht der Sonne zugewandt. »Ist das Leben voller Freiheit!« heulte, jaulte er wie eine läufige Hündin, und dann brach er in Lachen aus.
»George«, flüsterte Charlie. »George Kellogg.«
George reagierte zuerst nicht. Charlie dachte, er hätte ihn nicht gehört, aber dann drehte sich die hängeschultrige Gestalt in dem zerrissenen Mantel langsam auf ihrem Sitz um – es war eine alte Retorte, verrostet wie ein Anker – und gestattete seinen schwarzen Augen und seinem grämlichen Mund, sich zu einem Ausdruck milder Belustigung zu arrangieren. »Charlie Ossining«, sagte er, und es klang fast, als hätte er ihn erwartet.
Charlie trat einen Schritt nach vorn und hob die Arme, die Kette dazwischen spannte sich. Die Sonne stand still, genau über den Baumwipfeln. »Ich bin in Schwierigkeiten, George«, sagte er.
»Wer ist das nicht?« schnauzte George, und dann lachte er, ein kurzes, whiskeyschwangeres Bellen, das Charlie von neuem nervös machte. Er setzte seine Hoffnungen auf einen Verrückten, einen Säufer, einen Trunkenbold. George würde ihm sowenig helfen, wie er seinem Vater helfen würde.
»Das hab’ ich deinem Vater zu verdanken«, sagte Charlie, einer plötzlichen Inspiration folgend. Er hielt die Hände nach wie vor erhoben, eine wortlose Bitte, und die Kette fing die Sonne in einzelnen gehämmerten Lichttropfen auf.
Georges Miene veränderte sich mit einemmal. In seinen Augen war keine Spur von Belustigung mehr, und sein Mund war eingefallen. Er rutschte von der großen zylindrischen Retorte herunter, schwenkte in einer Hand die Flasche. »Was sagst du da? Mein Vater? Doch nicht der Mann mit dem großen Herzen, der Heilige vom Hügel höchstpersönlich?« Er stand unsicher auf den Beinen, warf den Kopf zurück, um sich
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