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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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versuchte er, Wasser aus einem Brunnen zu pumpen. »Keine Angst«, sagte der Arzt, in den üblichen Plattitüden bewandert, »Sie sind an den richtigen Ort gekommen. In Null Komma nichts werden Sie wieder Berge versetzen.«
    Und dann zog sich die Hand zurück, Anweisungen wurden erteilt, das Gepäck verschwand (und mit ihm Eleanor), und Will wurde von einem Pfleger, der so muskulös, fit und auf so glückselige Weise gesund war wie Frank Linniman, durch die Halle gerollt. Die Räder bewegten sich geräuschlos, mühelos, und die Gesichter seiner Mitpatienten – eine vergnügte und kraftstrotzende Schar, wie er selten eine gesehen hatte – schwebten an ihm vorbei, ohne ihn groß zur Kenntnis zu nehmen. Für sie war Will nur ein kranker Mann im Rollstuhl mehr.
    Aber was sie nicht wußten und was Will ihnen entgegenschreien wollte, war, daß er nie zuvor in seinem Leben in einem Rollstuhl gesessen hatte. Rollstühle waren was für Veteranen aus dem Bürgerkrieg, Beinamputierte, Invaliden, Pensionäre, Kranke, sie waren etwas für verwelkte Greisinnen und tattrige alte Rentner, die bereits mit einem Fuß im Grab standen. Philo Strang fiel ihm ein, der älteste lebende Mensch in Peterskill, das kaputte Relikt eines Mannes, der im Alter von zweiundvierzig Jahren beide Beine bei Sharpsville verloren hatte und sich seitdem vor dem Tabakwarenladen seines Sohnes in einem selbstgebauten rostigen Rollstuhl sonnte, halb blind und so gut wie taub; Büschel gelben Haars wuchsen ihm aus Ohren und Nase, und in seinem Bart klebte stets ein Schleimfaden. Tja, jetzt hatten sie etwas gemeinsam, der alte Philo Strang und er, obwohl Will erst knapp zweiunddreißig und bis vor einem Jahr so gesund und munter wie jeder andere auch gewesen war.
    Gesund und munter. Er war gesund und munter gewesen, das war es, was er ihnen sagen wollte.
    Aber was bedeutete das schon? Jetzt saß er in einem Rollstuhl. Jetzt war er hilflos. Vor der Zeit gealtert. Verbraucht, abgeschoben, zum Trocknen aufgehängt. Während er durch die Halle glitt, durch das Gemurmel der Unterhaltungen und das gedämpfte Gelächter, die um ihn herum blubberten, als handelte es sich um eine gesellige Angelegenheit, einen Kotillon oder einen Ball, spürte Will, wie sich in seinem Innern ein klaffendes Loch des Selbstmitleids öffnete: Gewiß war er der kränkste Mensch auf Erden.
    Die silberfarbenen Räder kamen vor dem Maul des Aufzugs zum Stehen, und Will fühlte sich sanft herumgeschwungen, als der Pfleger den Rollstuhl fachmännisch in die andere Richtung drehte und ihn rückwärts zog. Es war eine seltsam vertraute Empfindung, ein Gefühl der Leichtigkeit und des mühelosen Schwebens, das überhaupt nicht unangenehm war, und Will wurde bewußt, daß er sich in diesem Augenblick von einem alten Mann in ein Kleinkind verwandelt hatte, vom alten Philo Strang mit Rotz im Bart in ein Baby im Kinderwagen. »Guten Abend, Sir«, sagte der Aufzugführer und strahlte ihn mit seinem Missionarsgesicht an. »Sie sehen ja völlig erledigt aus«, und er schnalzte mit der Zunge. »Welcher Stock, Ralph?« erkundigte er sich beim Pfleger.
    Die Stimme des Pflegers in seinem Rücken kam Will wie die eines Bauchredners vor: »Fünfter.«
    »Oh«, murmelte der Aufzugführer und zwinkerte ihm zu, »sehr schön, Sie werden sich wohl fühlen, Sir. Dort gibt’s die beste Luft im ganzen Haus und zudem eine herrliche Aussicht.« Er unterbrach sich, seufzte und griff nach der Gittertür. »Die Zugfahrt«, sagte er kopfschüttelnd. »Der arme Mann sieht ganz erledigt aus, Ralph.«
    In diesem Augenblick, gerade als er das Gitter zuziehen wollte, schlüpfte eine Krankenschwester zu ihnen herein. Will hatte Schiß und delirierte und bemerkte sie zuerst nicht, aber als sie nach oben fuhren, der Schwerkraft zum Trotz, wandte sie sich ihm mit einem Lächeln von evangelischer Intensität zu. Obwohl er erschöpft und verzweifelt war, trotz der Schmerzen und des Verfalls, spürte Will die Kraft dieses Lächelns. Er sah auf. »Mr. Lightbody?« fragte sie.
    Will nickte.
    »Ich bin Schwester Graves«, sagte sie, und ihre Stimme war ein leiser Atemhauch, als wäre sie es nicht gewohnt, lauter als im Flüsterton zu sprechen. »Willkommen in der Schule der Gesundheit. Während Ihres Aufenthalts hier werde ich ihre persönliche Betreuerin sein, und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um ihn sowohl angenehm als auch physiologisch gesund für Sie zu gestalten.« Das Lächeln dauerte an, vollkommen,

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