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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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ihm den Rücken zugewandt und schien mit Instrumenten auf einem Tablett beschäftigt. »Das rechte Bein, so ist’s recht, jetzt das linke«, dirigierte Ralph und zog das Kleidungsstück über Wills Knöchel und Füße, und plötzlich war Will nackt, splitternackt, in Gegenwart von Fremden. Die Regung in seinen Lenden erstarb augenblicklich. Er schämte sich in Grund und Boden. Und was, wenn sie sich umdrehen würde? Was dann?
    Und Ralph, Ralph im weißen Kittel, Ralph mit der sicheren Hand und dem eckigen Kinn, zog einen Streifen Leinen hervor, einen Lappen von der Größe einer Serviette, an dem ein Gummiband befestigt war. Eigentlich eine Windel, nichts weiter. Will nahm das Kleidungsstück aus Ralphs ausgestreckter Hand, steckte die Füße durch die Öffnungen für die Beine und zog das Ding hastig über seine Lenden.
    »Fertig?« zwitscherte Schwester Graves und drehte sich um, als wäre sie hellsichtig. Will blickte hilflos und ergeben zu ihr auf. »Gut«, hauchte sie und rieb sich die Hände. »Sie werden in Null Komma nichts schlafen. Ralph, könntest du Mr. Lightbody ins Bad führen?«
    Will warf ihr einen erstaunten Blick zu.
    »Ein neutrales Bad und eine Darmspülung«, sagte sie, ihre Stimme so leicht wie Luft.
    »Darmspülung?« Während er schwankend aufstand und mit Ralphs Hilfe durchs Zimmer taumelte, konnte Will die Worte nur keuchend aussprechen.
    »Ein Klistier«, sagte Schwester Graves. »Heißes Paraffin, Seife und lauwarmes Wasser. Sie sind noch nicht gründlich untersucht worden – wir werden morgen eine Reihe Tests mit Ihnen machen –, aber der Boss und Dr. Linniman haben beide diagnostiziert, daß Sie unter anderem an Autointoxikation leiden. Das heißt, Sie haben Ihren eigenen Organismus vergiftet, Mr. Lightbody. Das kommt häufig vor bei Menschen, die Fleisch essen.«
    Jetzt waren sie im Badezimmer, und Will saß in seiner jungfräulichen Windel auf dem Rand der Toilettenschüssel. Ralph nickte und verschwand durch die Tür. »Aber ich esse kein Fleisch – jedenfalls jetzt nicht mehr«, protestierte Will. »Meine Frau läßt mich nicht. Im letzten halben Jahr gab’s nur Grahambrötchen, Pastinaken und Toast mit Tomaten.«
    Schwester Graves musterte ihn eingehend. Der Apparat – eine Art Spritze mit einem großen, aufgeblähten Ball aus Gummi am unteren Ende – lag geborgen wie ein heiliger Gegenstand in ihrem Arm. »Das ist überaus bewundernswert, Mr. Lightbody, und es ist ein sehr guter Anfang. Aber Sie müssen bedenken, daß Sie Ihren Organismus während der vielen Jahre falscher Ernährung schwer belastet haben. Ich bin kein Arzt, und ich weiß, daß Sie noch nicht gründlich untersucht worden sind, aber wenn es Ihnen ähnlich ergeht wie den Tausenden von Patienten, die aus aller Welt hierherkommen, dann würde ich sagen, daß Ihr Darm vollkommen verpestet ist mit Krankheitserregern und Bakterien – schädlichen Bakterien.«
    Im Badezimmer herrschte eine Temperatur von zweiundzwanzig Grad Celsius, eine Temperatur, die Dr. Kellogg im ganzen Sanatorium aufrechterhielt, winters wie sommers, zweiundzwanzig Grad, und doch durchlief Will ein Schauer. »Schädlich?«
    Ihre Hand lag auf seinem Rücken, heiß wie ein kleiner Goldklumpen auf seiner nackten Haut. »Beugen Sie sich nach vorn, Mr. Lightbody, ja, nur ein kleines bißchen, so ist’s recht.« Er fühlte, wie sie an der Windel herumfummelte, fühlte, wie sie an seiner Hüfte hinunterglitt. »Ja«, hauchte sie fröhlich, »es gibt so viele Arten von Bakterien – die meisten Menschen sind sich dessen nicht bewußt –, und viele von ihnen sind ein ganz natürlicher und notwendiger Bestandteil des menschlichen Organismus – vor allem im Verdauungskanal.« Sie hielt inne, suchte, sondierte. »Wir müssen die bösen ausrotten, damit die guten … gedeihen können.«
    Ihre Hände. Die warme Kugel des Apparats. Was tat er hier bloß? Was ging hier vor? »Eleanor«, platzte er heraus. »Meine Frau. Wo ist Eleanor?«
    »Psst«, flüsterte Irene. »Ihr geht’s gut. Sie ist im zweiten Stock, Zimmer 212, und unterzieht sich zweifellos der gleichen Prozedur … um ihr System zu reinigen, um sich zu entspannen.«
    Will war wie vor den Kopf gestoßen. »Dann wird sie nicht hier bei mir wohnen?«
    Die sanfte Stimme der Schwester liebkoste sein Ohr, beruhigte ihn, wurde so sehr Teil seiner selbst wie die geheime Stimme, die in seinem Kopf sprach. »O nein. Der Boss teilt Ehepaaren getrennte Zimmer zu. Aus therapeutischen Gründen

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