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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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zerstreut gewirkt, erschöpft, überhaupt nicht wie der starke, unerschütterliche Felsen, den er erwartet hatte.
    Nicht, daß das von Bedeutung war. Nicht mehr. Nicht angesichts dieser oberflächlichen, aber furchterregenden Untersuchung. Der berühmte Mann hatte Will den Finger in den Mund gesteckt, obwohl er so klein war – eine weitere Überraschung –, daß er sich dafür auf die Zehenspitzen hatte stellen müssen, und Will hatte seinen beunruhigten Blick gesehen. Es war ein Blick gewesen, der bis ins Innerste von Wills Wesen gedrungen war, ein Blick, der Sarg und Trauerkränze ankündigte, und plötzlich hatte sich Will so krank und schwach wie nie zuvor in seinem Leben gefühlt. Er fühlte sich verfault. Benommen. Todgeweiht. Und sein Magen – da war er, so deutlich spürbar wie die Hände vor seinem Gesicht –, sein Magen krampfte sich zusammen, als hätte Will ein Hauch aus dem Grab angeweht.
    »Einer der schwersten Fälle von Autointoxikation, die ich je gesehen habe«, hatte der Doktor verkündet.
    Die Worte trafen ihn wie ein Kugelhagel. Will wankte, wankte tatsächlich, und dann war der Rollstuhl da, und er verlor alle bewußte Kontrolle über sein Muskeln, so als hätte er einen halben Liter Old Crow auf einen Zug getrunken. Er hatte Angst. Das Herz in seiner Brust schlug wie ein Hammer. Die Decke schien auf ihn herabzufallen und sich dann wieder zurückzuziehen.
    »Eleanor!« rief eine Stimme, und der herzliche und dreiste Klang, geschmeidig wie Wasser, das über die glatten blauen Steine in einem Strom fließt, ließ ihn wieder zu sich kommen. Die Muskeln in seinem Nacken spannten sich an, Bänder und Sehnen verrichteten ihre Arbeit, die Decke war auf der Stelle bloß noch eine Erinnerung, und er starrte in die jungenhaften Augen, auf das Grübchen im Kinn und die entblößten, leuchtendweißen Zähne des Dr. Frank Linniman. »Sie haben Gewicht verloren«, schalt Dr. Linniman, ergriff Eleanors behandschuhte Hand und wirbelte sie herum wie eine Ballerina.
    Eleanor nannte ihn »Frank«. Nicht »Doktor«, nicht mal »Dr. Linniman«. Nur »Frank«. »Ja, Frank, ich weiß, ich weiß, aber in Peterskill, New York« – so wie sie den Namen ihrer Heimatstadt aussprach, hätte sie genausogut von einem Hüttenkonglomerat im Kongo reden können –, »kann man sich eigentlich nicht wissenschaftlich ernähren, und die Köchin scheint, obwohl sie sich bemüht, einfach den Dreh von Dr. und Mrs. Kelloggs Rezepten nicht rauszukriegen.« Eleanor glühte, ihre Haut schimmerte, in ihren Augen funkelten die Lichter des Kronleuchters. Sie machte einen kleinen Schmollmund, zuckte mit einer Achsel, ließ den Kopf unmerklich sinken, damit sich der künstliche Vogel auf ihrem Hut sachte bewegte. »Wirklich, Frank«, hauchte sie, »es ist, als ob man hier in den Himmel zurückkäme.«
    In diesem Augenblick wurde Wills Angst vor seiner eigenen Sterblichkeit durch ein anderes Gefühl ersetzt, durch eins, das häufiger mit Jugendlichkeit und Kraft in Verbindung gebracht wird: Eifersucht. Sie war schließlich seine Frau, die Frau, die er liebte, die Frau, die auf tragische Weise mit seiner kleinen Tochter schwanger gegangen war, die Frau, deren Brüste er mit seinen Händen berührt hatte und deren Kurven und intime Stellen er besser kannte als jeder andere, oder besser gekannt hatte … ja, und hier stand sie und schmeichelte diesem … diesem Arzt in dem gestärkten weißen Anzug und mit dem sonnigen Grinsen. Herr im Himmel, er sah eher aus wie ein Footballspieler als wie ein Mann der Medizin, eher wie ein Rugbyspieler, ein krakeelender Catcher mit tolpatschigen Fäusten oder wie ein schwerfälliger erster Malhüter. Will räusperte sich. »Will Lightbody«, sagte er, oder versuchte er zu sagen, aber unglücklicherweise war alles, was herauskam, ein unzusammenhängendes Krächzen.
    »Ach«, sagte Eleanor, eine Hand auf ihrem Busen, und in diesem Augenblick schien sich die kleine Gruppe, die sich um Will versammelt hatte – seine Frau, ein Page, der Pfleger hinter ihm und Dr. Linniman –, dichter um ihn zu drängen, die ganze Welt und das Universum strahlten von diesem kleinen Ach aus. »Verzeihen Sie mir«, fuhr Eleanor fort, »Frank, Dr. Linniman, darf ich Ihnen meinen Mann vorstellen.« Und dann, atemlos: »Er ist ein sehr kranker Mann.«
    Plötzlich hing Frank Linnimans ernstes Gesicht über Wills, und seine große, freundliche, heilende Pfote knetete Wills schlaffe, verrunzelte Hautfalten und Knochen, als

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