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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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vielbeschäftigt? Er war ein Jongleur, der gleichzeitig hundert Keulen durch die Luft warf –, und er eilte ins San, um die Kontrolle über die Welt wieder zu übernehmen.
    Der Tag war schwindelerregend, so hektisch wie kein anderer, an den er sich erinnern konnte. Er hatte eine scharfe Unterredung mit Schwester Ellen White und einem halben Dutzend Adventisten-Ältesten, die das San damals noch kontrollierten; er arbeitete wie ein Wilder in seinem Labor, damit die Milch auf Pflanzenbasis anders schmeckte als die Mandel-Erdnußpaste, aus der sie bestand; er kümmerte sich um seine Patienten; er reparierte das elektrische Licht in den Duschkabinen der Frauenturnhalle (fehlerhafte Verdrahtung) und hielt wie jeden Montagabend einen Fragekasten-Vortrag, an jenem Abend zum Thema »Selbstbefleckung und der atrophierte Testikel«. Als er nach Hause kam, war es nach Mitternacht, und im Haus war es still. Er war müde, aber in Hochstimmung, in Gedanken bereits bei der Arbeit des nächsten Tages, beim Potential der Sojabohne und des japanischen Seetangs, beim universellen Dynamometer, beim Pneumographen, beim orthopädischen Stuhl und bei einer Vorrichtung am Fenster, mittels deren die gesunde Winterluft zu dem gut eingepackten, im Bett schlafenden Patienten geleitet werden konnte – bei all den miteinander verschlungenen Gliedern der unendlich langen, funkelnden Kette von Inspirationen, die sein Gehirn Tag und Nacht auf Trab hielten. Er fühlte sich, so schien es, zum erstenmal seit vielen Wochen wirklich wohl.
    Er ging durch die rückwärtige Diele, um ein Journal aus der Bibliothek zu holen – eine neue Ausgabe der Vegetationsbilder, in die er einen Blick werfen wollte –, als er am Fuß der Treppe über etwas stolperte, das sich wie eine Hand um seinen Schuh legte. Er beugte sich hinunter zu dem Ding wie ein Paläontologe, der in der Erde einen Knochen entdeckt, und es dauerte eine Weile, bis er begriff- seine Finger mußten das Material für ihn interpretieren.
    Eine Jacke. Eine Kinderjacke.
    Ja, und dann kam der Tag, da George zum erstenmal sprach. Acht Monate lebte er nun bei ihnen, acht Monate aß er ihr Essen, ging in ihre Schule, trug die Kleidung, die sie ausgesucht, und schlief in dem Bett, das sie ihm gegeben hatten, und während dieser ganzen Zeit war nicht ein Wort über seine Lippen gekommen. Der Doktor selbst hatte ihn untersucht und sich mit seinen Kollegen beraten, und sie hatten nichts gefunden: Georges Stimmapparat war so normal wie der von William Jennings Bryan. Die Antwort auf die Frage, warum er sich weigerte zu sprechen, blieb der reinen Spekulation überlassen. Der Doktor kreidete es schlicht und einfach seiner Widerspenstigkeit an.
    Eines Abends, als er in einem der seltenen Momente der Entspannung am Klavier saß und besser als nur passabel »After the Ball« für Klein Rebecca spielte, verspürte der Doktor plötzlich einen Stich in der unteren Rückenhälfte. Erstaunt hielt er inne – niemand störte John Harvey Kellogg, wenn er sich entspannte –, seine Finger erstarrten über den Tasten, und er wandte den Oberkörper um, während der letzte Akkord noch in der Luft hing. George stand direkt hinter ihm, einen stumpfen Bleistiftstummel in der Hand. Der Doktor starrte ihn verblüfft an, und George, der seinem Adoptivvater nur selten in die Augen blickte, starrte zurück. Nach einer Weile fragte der Doktor ihn, ob er etwas wolle, und erwartete als Antwort das übliche Schweigen. Aber George überraschte ihn. Er räusperte sich und ließ ein kleines angespanntes Lächeln über seine Lippen kriechen. »Ja, Vater«, sagte er, und seine Stimme klang klar, kräftig und gefaßt, »ja, ich möchte etwas: Du hast nicht zufällig einen Groschen für mich, oder?«
    George. Hildahs Junge. Sie hätten ihn in der Hütte lassen sollen, in der sie ihn gefunden hatten, sie hätten ihn verhungern und verfaulen lassen sollen, bis das Licht in seinen Augen erloschen wäre und sich sein Zahnfleisch aufgelöst hätte. Es war ein schrecklicher Gedanke für einen Mann des Heilens, aber er dachte es nun mal. Seitdem der Doktor ihn zum erstenmal gesehen hatte, hatte George nichts als Ärger gemacht, und jetzt war er wieder da, und diesmal wollte er nicht bloß einen Groschen. »Hundert Dollar?« wiederholte der Doktor.
    George sah ihn kalt an. Dab schluckte hörbar allein bei der Erwähnung der Summe. »Genau«, knurrte George. »Einhundert Dollar, und ich geh’ dir nicht mehr auf die Nerven.« Er hielt inne und

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