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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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beobachtet würde. Mittlerweile nahezu völlig willenlos, ließ er den Kopf gegen die Lederpolsterung des Rollstuhls fallen, blickte auf und sah eine junge Frau, die ihn aus einer offenen Tür auf der anderen Seite des Gangs neugierig anstarrte. Sie war groß, aufsehenerregend, gut gebaut, und wieder begannen die wollüstigen Gedanken sein Gehirn zu überfluten … aber dann zog sich die Flut genauso schnell zurück, wie sie gestiegen war: Irgend etwas stimmte nicht mit ihr. Stimmte ganz und gar nicht. Ihre Haut – sie hatte die Farbe von schimmeligem Brot. Und ihre Lippen – sie waren tot, schwarz, zwei kleine Auberginen, unter ihrer Nase befestigt als morbider Gag. Krank. Sie war krank. Das hier war kein Hotel. Er versuchte es mit einem schiefen Grinsen, mitleidsvoll und traurig, aber sie sah ihn nur ausdruckslos an und schloß die Tür.
    »Hier sind wir«, sagte Schwester Graves, als sie das Zimmer betraten, »ist es nicht hübsch?«
    Will sah alles auf einen Blick: Orientteppich, Vorhänge, ein stabiles Mahagonibett, ein dazu passender Schrank, ein separates Bad. Er versuchte zu antworten, versuchte, interessiert zu wirken, aber er war krank bis ins Mark. »Brüste«, sagte er. »Vagina.«
    Schwester Graves’ Lächeln flackerte kurz, eine Hundert-Watt-Birne zwischen hellem Leuchten und Verlöschen. »Wie bitte?«
    Ralphs Stimme ertönte, glückselig vor Begeisterung: »Er sagt, daß es sehr hübsch ist. Aber versuchen Sie nicht mehr zu sprechen, Mr. Lightbody, nicht in Ihrem Zustand, bitte.«
    Schwester Graves – Irene, hatte der Auf Zugführer sie nicht Irene genannt? – wies Ralph an, Will aus dem Stuhl zu heben und aufs Bett zu legen. Will protestierte nicht. Ralph schob einen Arm unter seine Knie, legte den anderen um seine Schulter, hievte ihn aus dem Stuhl, ohne auch nur einmal zu ächzen, und ließ ihn aufs Bett sinken. Dort wurde Will in eine sitzende Stellung gebracht, während ihm zwei Paar Hände das Jackett auszogen, die Krawatte, das Hemd und den Kragen und dann die Schuhe, die Socken und die Hose, bis er in der Unterwäsche vor ihnen saß, schon zu hinüber, um sich noch über Schicklichkeit Sorgen zu machen. Keine Frau außer seiner Mutter und Eleanor hatte ihn je in seiner Flanellunterwäsche gesehen – und auch kein Mann. Und hier standen Ralph (er kannte nicht einmal seinen Nachnamen) und Schwester Graves vor ihm, als wäre es die natürlichste Sache der Welt. Perverserweise begann sich wieder etwas in seinen Lenden zu regen. Er ließ sich aufs Bett sinken und schloß die Augen.
    Er hörte das Klappern eines Tabletts, das Wispern der Rollstuhlräder. Schwester Graves – Irene – würde dafür sorgen, daß er schlief. Er wünschte ihr viel Glück. Wirklich. Seit zweiundzwanzig Tagen hatte er nicht mehr geschlafen, so gut wie nichts gegessen, seinen Darm nicht entleert und noch nicht einmal richtig durchgeatmet. Es war natürlich Eleanors Schuld. Kaum hatte sie verkündet, daß sie ins San gehen würden, beide, für unbestimmte Zeit, begann er endlose Nächte lang wach zu liegen. In seinem Magen brodelte Angst. Angst wovor? Er wußte es nicht. Aber das Sanatorium war ein Club, zu dem er. keinen Zutritt gehabt hatte, ein Club, der ihm seine Frau weggenommen hatte, seine kleine Tochter, seinen Magen, und bedrohlich wie ein Alptraum schwebte es über den dunklen Nachtstunden. Er sehnte sich nach dem Vergessen, das ihm die Sears’-White-Star-Alkoholentziehungskur beschert hatte, nach den rot- und rosageränderten Opiumträumen, die ins Nichts führten. Dieses Mittel würde ihm Schlaf bringen, o ja, bestimmt. Aber er kämpfte gegen die Sucht an, kämpfte wie ein Mann am Rande des Todes – und genau das war er. Und deshalb schlief er nicht. Überhaupt nicht. Nicht für den Bruchteil einer Sekunde. Jedesmal, wenn er die Augen schloß, wurde er augenblicklich durch seinen eigenen Schlund in seinen Magen geschwemmt, wo er wie ein unverdauter Essensklumpen Quartier bezog – Koteletts, Pommes frites, Karaffen mit Whiskey und Austern mit menschlichen Gesichtern hüpften und tanzten um ihn herum, während er in seinen eigenen Säften schmorte. Er wünschte ihr Glück, Schwester Graves, aber wie konnte sie hoffen zu erreichen, was Sears, Eleanor und Old Crow kaum geschafft hatten?
    Er hörte Wasser im Bad rauschen, und dann spürte er erneut Ralphs Hände, die seine Hemdhose aufknöpften. »Nur die Ruhe«, murmelte Ralph, »heben Sie den Arm hoch.« Will riß die Augen auf. Schwester Graves hatte

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