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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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schnurrbärtigen Männern vorbeikam, von denen keiner in der Gefahr zu schweben schien, demnächst Hungers zu sterben. Er sah, daß alle Tische in der Tat sechs Gedecke aufwiesen – zweifellos hatte der Boss beschlossen, daß es sich hierbei um die für Tafelfreuden und physiologische Nahrungsaufnahme optimale Personenzahl handelte, ganz zu schweigen von hervorragender Verdauung. Ein Ausdruck kam Will unvermittelt in den Sinn – »das peristaltische Optimum« –, und er mußte wider Willen lächeln.
    Er reckte den Hals, um nach Eleanor Ausschau zu halten, aber sie war nirgends zu sehen in diesem Meer wissenschaftlich speisender Köpfe, und als die Kellnerin am anderen Ende des Speisesaals abrupt stehenblieb, war er nicht ganz so wachsam, wie er hätte sein können. Für einen Moment verlor er die Kontrolle über seine Füße, die schmal, aber überaus lang waren, und plötzlich merkte er, daß er in einem spastischen Strecksprung nach vorn schoß, genau als die Kellnerin einen Stuhl für ihn zurückschob. Wie peinlich, dachte er, oh, wie peinlich, als er im letzten Moment den Arm ausstreckte, um sich an der starren Lehne des Stuhls festzuklammern, und es schaffte, sich in der Hüfte zu drehen und schwerfällig auf den Stuhl plumpsen zu lassen – nicht ohne sich jedoch zuvor beide Schienbeine zu prellen und sich mit einem unerwartet lauten Knall, der wie ein Schuß im Raum widerhallte, das Knie anzuhauen.
    »Alles in Ordnung, Sir?« Die Kellnerin sah betroffen aus.
    Alles in Ordnung? War mit ihm alles in Ordnung? Der urplötzliche und stechende Schmerz in Schienbein und Kniescheibe war nichts, Zunder im Vergleich zu dem Inferno, das in seinen Eingeweiden wütete. Er wollte den Mond anheulen, sich den Bauch aufreißen, auf alle viere niedergehen und seine Innereien herauszerren wie ein vergifteter Hund. Alles in Ordnung? Mit ihm würde nie wieder alles in Ordnung sein.
    Mit Tränen des Schmerzes in den Augen blickte er in die erschrockenen Gesichter, die sich um den Tisch reihten, und bemerkte, daß er in die chartreusefarbenen Augen und auf die hohen grünen Backenknochen des Mädchens starrte, das ihm am Abend zuvor im Gang aufgefallen war. Sie hier zu sehen verwirrte ihn, und er blickte hinunter auf seine Hände, in die die Kellnerin mit tausend Entschuldigungen eine Speisekarte legte.
    »Ein bißchen übereifrig heute?« sprach eine Stimme in sein Ohr. Die Stimme gehörte einem ungefähr sechzigjährigen Engländer mit weißem Haarkranz und Zähnen wie ein Muli. Er saß unmittelbar zu Wills Rechten. »Sie können’s gar nicht mehr erwarten, hä? Ich kenne das Gefühl. Diese einfache Lebensweise sorgt für einen gesunden Appetit, das kann keiner bestreiten.«
    Will stimmte ihm aus ganzem Herzen zu, den Blick auf die Speisekarte gerichtet.
    »Endymion Hart-Jones«, verkündete die Stimme des Engländers nach einer Weile, und zuerst dachte Will, er empfehle ein Gericht – aber nein, er stellte sich vor.
    Will war in einem anständigen Haushalt aufgewachsen und in anständige Schulen gegangen. Er wußte, wie man sich in Gesellschaft zu verhalten hatte. Für gewöhnlich war er sogar ein geselliger Mensch, der sich kaum zurückhalten konnte – aber zu sagen, daß er jetzt nicht ganz auf dem Posten war, wäre eine Untertreibung. Er sah dem Engländer in die Augen. »Will Lightbody«, sagte er mit seiner Regentonnenstimme.
    Der Engländer stellte die anderen vor, Will seinerseits nickte jedem zu. Die schwergewichtige Frau direkt links neben Will war Mrs. Tindermarsh aus Indianapolis; neben ihr ein zwergenhafter Mann mit einem winzigen Spitzbart und einem zwiebeiförmigen Kopf, ein Professor Stepanovich von der Akademie der Astronomischen Wissenschaften in Sankt Petersburg, Rußland; auf der anderen Tischseite Miss Muntz, das grünliche Mädchen aus Poughkeepsie, New York; und neben ihr Homer Praetz, der Industrielle aus Cleveland.
    »Das Nußsteak Lissabon mit Sahne-Gluten-Soße ist absolut göttlich«, empfahl Mrs. Tindermarsh ohne eine Spur von Ironie.
    Will konnte sie nur anblinzeln. Er spürte die Gegenwart der Kellnerin – oder war es eine von Mrs. Stovers Diätassistentinnen? – neben seinem Ellbogen, als er versuchte, die Speisekarte zu entziffern.
    »Hätten Sie heute gern ein Hauptgericht, Mr. Lightbody?«
    Will blickte in die runden, aufrichtigen Gesichter von Kellnerin und Diätassistentin, dralle junge Mädchen, die Gesundheit ausstrahlten, Weisheit und geheimes Diät- und Gesundheitswissen, in das

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