Willkommen in Wellville
und düsteres Zeugnis ablegten für das Schicksal derjenigen, die den Prinzipien der biologischen Lebensweise den Rücken gekehrt hatten. Und wo war Dr. Linniman? Er ließ sich zweifellos Zeit bei Kleie und Meltose und gab gute Ratschläge, trieb sich im Speisesaal herum, um sich an die Seite verheirateter Frauen zu schleichen und sie in die intimen Details von Speichelfluß, Kauen und dem richtigen Gebrauch der Halsmuskeln einzuweihen. Und was war das für ein Geruch? Will konnte ihn nicht bestimmen, aber das Büro schien gesättigt von einer modrigen Essenz, als ob hier tausendjährige chinesische Eier lagerten oder Schimmel, der aus den Ritzen eines ägyptischen Sarkophags gekratzt worden war. Er spürte, wie sich sein Magen umdrehte.
»Ah! Mr. Lightbody!« Frank Linniman tauchte plötzlich durch eine getäfelte Tür auf der anderen Seite des Büros auf, explodierte ins Zimmer herein, als wäre er gerade eben durch die Wand gebrochen. Mit zwei Schritten stand er neben Will, der reglos auf dem Gerüst des physiologischen Stuhls saß. Dr. Linniman blieb einen Augenblick vor dem Stuhl stehen, strahlte heiter, sprühte vor vegetarischer Energie, Muskelkraft und guter Laune, und dann machte er es sich zwanglos auf einem Eck seines Schreibtisches bequem und fixierte seinen Patienten mit verwaschenen Augen. »Und wie geht es uns heute morgen? Gut geschlafen? Das Frühstück behalten?«
Will hörte seine hohldröhnende Stimme schallend antworten. Es ging ihm sehr gut, vielen Dank. Oder nein, was sagte er denn da bloß? Es ging ihm schlecht. Er war krank. Fürchterlich krank. Er hatte geschlafen, das ja – zum erstenmal seit drei Wochen –, und er hatte ein Stückchen Toast gegessen. Es lag an seinem Magen, der war das Problem.
Dr. Linniman nahm diese Information kommentarlos auf. Er rutschte mit der linken Pobacke zur Schreibtischkante, umklammerte mit fleischigen Händen ein Knie und streckte sich wie ein Tier im Käfig. An der Wand hinter ihm, gegenüber dem Bücherregal mit den antiken Totenschädeln, hing ein Arrangement von Photographien, das Will bislang irgendwie übersehen hatte. Auf jedem war Dr. Frank Linniman in athletischer Pose dargestellt: mit Tennisschläger, Putter, Baseball- und Lacrosseschläger, auf einem Pferd, mit den Zähnen an einem Seil hängend.
Frank. Eleanor hatte ihn Frank genannt.
»Also gut«, rief Linniman plötzlich, sprang von seinem Sitz herunter in einem Ausbruch von Bewegungsdrang, der seinen Patienten verblüffte, »heute ist der große Tag, was? Der Tag, an dem wir Ihr Leben auf den Kopf stellen. Zeit für die Untersuchung.«
Für die nächste halbe Stunde saß Will auf dem unnachgiebigen Stuhl und ließ sich schubsen, knuffen, zwicken, drücken und abklopfen, während Dr. Linniman in ein Notizbuch kritzelte und ihm detaillierte Fragen bezüglich seiner Körperfunktionen, seiner Krankengeschichte und Genealogie stellte. Will antwortete so geduldig wie möglich, aber er nahm es übel. Er haßte ärztliche Untersuchungen. Dabei fühlte er sich inadäquat, inkompetent, vergewaltigt. Schlimmer noch: dem Sterben nahe. Dr. Brillinger hatte ihn der gleichen Prozedur unterworfen, hatte ihn in seinem eigenen Schlafzimmer in Peterskill geknufft und gezwickt, hatte ihm in Ohren und Hals geschaut, auf die Knie geklopft, den Arm hochgehoben und wieder fallen lassen – nur um dann einzugestehen, daß er überfragt sei. Er erinnerte Will daran, daß er nur ein bescheidener Allgemeinarzt und nicht auf dem laufenden war hinsichtlich der letzten Entwicklungen von antitoxischer Ernährungsweise, Naturheilkunde, Heliotherapie, Sinusströmen und der neuesten Fortschritte in der medizinischen Wissenschaft. Was Will brauche, meinte er, und rein zufällig stimmte Eleanor dieser Verordnung aus ganzem Herzen zu, sei ein ausgedehnter Aufenthalt in einem der großen Sanatorien. Dort könnte er von den derzeit besten und fähigsten Männern untersucht werden. Dort würde er seine Antworten bekommen.
Ja. Und jetzt war er hier, im großen, allseits gelobten, überteuerten Sanatorium von Battle Creek, und alles, was er bislang bekommen hatte, waren Fragen. Wie lange? Wie oft? Welche Farbe? Wann? Und wie fühlt sich das an? Und das? Ihr Vater? Ihre Mutter? Großeltern? Urgroßeltern? Schwindsucht? Windpocken? Gelbfieber?
Will tat sein Bestes. Eine halbe Stunde lang saß er da und beantwortete die unziemlichen Fragen dieses unausstehlichen Mannes, mit brennendem Magen, schmerzenden Gelenken,
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