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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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mächtig ein- und ausschnaufen, damit Will auf dem fluoreszierenden Schirm beobachten konnte, wie die leuchtenden Knochen seines Brustkastens sich weiteten und zusammenzogen, als seine Lunge ihre Last an Luft aufnahm und wieder ausstieß. Es war wirklich erstaunlich, wie ein Zaubertrick, als hätte der Mann winzige Leuchtröhren im Skelett. »So«, intonierte Dr. Tomada feierlich, »Sie müssen mit Ihre Lunge einziehen Luft.« Der Assistent, der genervt wirkte – zweifellos weil es ihn belastete, sich zur Erbauung jedes flach atmenden Patienten die Knochen illuminieren zu lassen –, lächelte müde.
    Als nächstes mußte Will in die Hals-, Nasen- und Ohrenabteilung, wo ein Arzt mit einem stachligen, fusseligen Bart gewissenhaft in seine Schädelhöhlungen spähte und dabei einen ununterbrochenen Monolog zum besten gab, der jeden einzelnen Schlag in jedes einzelne Loch aller Golfpartien, die er im Sommer zuvor gespielt hatte, Wiederaufleben ließ. Bei der Beschreibung eines besonders kniffligen Pars Drei mit einem besonders spitzen Winkel rechter Hand driftete Will ab in eine Träumerei. Er erinnerte sich an seine Kindheit, als die Antworten auf Prüfungen richtig oder falsch gewesen waren, als er so gesund und munter wie ein junger Hund gewesen war und die Lösungen aus einer Summe, einer Verbform, einer Zeit- oder Ortsangabe bestanden hatten. Aber diese Prüfung war anders. Die Antworten waren dunkel, lagen jenseits seines Verständnisses und seiner Kontrolle, sie floßen durch seine Adern, waren versteckt in seinen Knochen und inneren Organen, brodelten in seinen Eingeweiden. Es gab kein Richtig oder Falsch – nur gute oder schlechte Neuigkeiten.
    Nach ungefähr zwanzig Minuten legte der Hals-, Nasen-, Ohrenmann seine Instrumente beiseite. Will erfuhr zum drittenmal, seitdem er im San eingetroffen war, daß seine Zunge belegt war (womit oder wie das seine Gesundheit in Mitleidenschaft zog, blieb nach wie vor ein Geheimnis), und als ihn der Arzt zur Tür geleitete, riet er ihm, richtig zu essen und eine im Freien auszuübende Sportart zu ergreifen – vielleicht eine, die langen Märsche und womöglich das Schwingen von Schlägern aus Holz oder Eisen beinhaltete.
    Als nächstes führte ihn Schwester Graves in den Dynamometerraum, wo er jeweils warten mußte, bis er an Geräte konnte, die dazu bestimmt waren, die Leistungsfähigkeit von Muskeln zu messen. Zwei fröhliche, kräftige Männer in Trikothosen wiesen Will an, an verschiedenen Hebeln zu zerren, sich vornüberzubeugen, auf einem Bein zu stehen, sich Lederriemen um Stirn, Ellbogen, Bauch und Knie zu binden und ganz allgemein gegen den Widerstand anzukämpfen, der von einer stählernen, unbeweglichen Apparatur ausging. Seine Anstrengungen wurden gemessen von einer Skala in einem Glaskasten, und obwohl man Will versicherte, daß das Gerät vom allmächtigen Boss höchstpersönlich zu präzisen und lebenswichtigen diagnostischen Zwecken erdacht worden war, erinnerte ihn das Ganze verdächtig an die Hau-den-LukasÜbung auf dem Jahrmarkt.
    Im weiteren Verlauf des Vormittags wurde Will Blut abgezapft, machte er die unangenehme Bekanntschaft mit Gastroskop und Rektoskop, blies in eine mit einer klaren Flüssigkeit gefüllte Phiole, um den Azetongehalt seines Atems bestimmen zu lassen, und ging auf einem Laufband wie ein Pferd mit Scheuklappen, während ein nervöser kleiner Arzt mit einer riesigen Taschenuhr seine Brust abhorchte und Notizen auf einen von John Harvey Kellogg entworfenen Vordruck kritzelte. Um ein Uhr überließ ihn Schwester Graves am Eingang zum Speisesaal der Obhut einer eiskalt lächelnden Mrs. Stover, und wieder saß Will neben Hartjones, Miss Muntz et al., löffelte kummervoll ein, zwei Bissen Reis à la Carolina, den ihm die Diätassistentinnen aufgezwungen hatten, und knabberte an einer Scheibe getoasteten Grahambrots. Sollte Eleanor anwesend sein, so sah er sie nicht, allerdings hatte er nach seiner Runde mit dem Dynamometer auch nicht mehr die Kraft, den Kopf zu wenden und sich umzuschauen.
    Aber der gute Dr. Kellogg hatte in seiner Weisheit und Güte das Bedürfnis nach Ruhe vorausgesehen und für diesen Tag unerbittlicher Untersuchungen einen einstündigen Mittagsschlaf verordnet. Das war Musik in Wills Ohren – aber die Sache hatte einen Haken. Das Nickerchen sollte im Freien gehalten werden, auf der Veranda, in der kräftigenden Atmosphäre eines sonnenlosen und höllisch kalten Novembernachmittags. Und warum? Weil Dr. Kellog an

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