Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
Will bedachte sie mit einem mörderischen Blick, und sie hielt sich zurück. »Ich will mich nicht streiten, Will, ich kann nicht – ich bin eine kranke Frau.«
    »Ich bin ein kranker Mann.«
    »Ich bin kränker.«
    »Als ich? Du machst Witze.«
    »Ich bin wahrhaftig kränker. Wesentlich kränker. Und das weißt du auch.«
    »Das ist mir neu. Ich höre immer nur ›ich, ich, ich‹ – was glaubst du, wie ich mich fühle?«
    Aber Will bekam keine Antwort. Eleanor kehrte ihm den Rücken zu. Sie drehte sich einfach um und stolzierte den Korridor entlang, und seine Frage – sein jämmerlicher, selbstgerechter cri de cœur von einer Frage – hing unbeantwortet im Raum. Er sah zu, wie sich ihre Schultern von ihm entfernten, beobachtete ihren ärgerlichen Schritt, das zielgerichtete Auf und Ab ihrer Füße, sah ihr nach, bis sie um die Ecke ging und verschwunden war.
    »Mr. Lightbody?«
    Eine Stimme sprach neben seiner Schulter, eine bekannte Stimme, einschmeichelnd, hauchzart und süß. Die Stimme von Schwester Graves. Benommen wandte sich Will zu ihr um.
    Sie sah gut aus, strahlend vor Gesundheit und Farbe, und das Leuchten eines unkomplizierten Morgens ließ sich in ihren Augen und auf ihren geschwungenen, lächelnden Lippen nieder. Das war nicht das Battle-Creek-Sanatorium-Lächeln, es war echt, ungekünstelt, aufrichtig, das war das Lächeln der Auferstehung und Erlösung. Schwester Bloethal verschwand aus seinen Gedanken. Dr. Linniman löste sich in Rauch auf. Sogar Eleanor trat in den Hintergrund. Will spürte, daß seine großen Zähne sie grinsend anblitzten, und er kämpfte gegen das plötzliche nervöse Zucken in seiner linken Wange an. »Schwester Graves«, sagte er und nickte, »einen schönen guten Morgen.«
    »Guten Morgen«, erwiderte sie weiterhin lächelnd und sah ihm offen in die Augen. Der Blick überraschte ihn, und er kam sich nackt vor.
    Krank, wie er war, konnte Will nicht umhin, sich zu fragen, was dieser Blick bedeutete. Er brachte weit mehr zum Ausdruck als kühle, distanzierte, krankenschwesterliche Besorgnis, oder? Oder machte er sich etwas vor? Er erinnerte sich an ihre Berührung, als sie ihn ins Bett gebracht hatte, an die Hitze ihrer Haut auf seiner, und er blickte verstohlen auf ihre kleinen Füße in den weißen Sanatoriumsschuhen, sah, wie sich der dünne Baumwollrock an ihre Hüften und ihren flachen jungen Bauch schmiegte. Austern. Was war schlecht an Austern?
    »Nun«, sagte sie, »sind Sie bereit?«
    »Bereit?«
    War das ein Kichern, das ihr herausgerutscht war? Nein, natürlich nicht. Aber sie lächelte ihn an, lächelte so breit, daß er fürchtete, es würde gleich etwas Klebriges, Süßes aus ihrem Mund sickern. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Mr. Lightbody?«
    »O nein«, sagte Will mit Nachdruck, »überhaupt nicht.« Auch er grinste.
    Sie legte den Kopf schief, als ob sie ihn besser ins Blickfeld bekommen wollte, und stieß einen Seufzer aus. »Es ist Zeit für Ihre Untersuchung – oder haben Sie die vergessen?«
     
    Zehn Minuten später, nachdem er mit dem Aufzugführer Banalitäten ausgetauscht und die enge Kabine ausgenutzt hatte, um das berauschende, schwach antiseptisch duftende Aroma von Schwester Graves’ hochgesteckten Haaren einzuatmen, fand sich Will auf dem knochenbrecherischen physiologischen Stuhl im temperaturkontrollierten Büro von Dr. Linniman wieder. Das Büro befand sich im ersten Stock der Neurologischen Abteilung, und die Fen ster gingen hinaus auf die gefrorene Wiese des Wildgeheges, das Dr. Kellogg zur Erbauung seiner Patienten angelegt hatte. (Die Macht der Suggestion: Welch anständiger, rational denkender Mensch, Mann oder Frau, wäre noch in der Lage, Fleisch zu begehren angesichts dieser sanften, eleganten, unschuldigen Geschöpfe?) Will versuchte, sich auf dem Stuhl zurückzulehnen, aber Dr. Kellogg hatte ihn so konstruiert, daß eine entspannte Haltung unmöglich war – eine entspannte Haltung war der erste Schritt auf dem Weg zu einer schlechten Haltung und einer bankrotten Gesundheit. Der Stuhl war eine Art Folterinstrument, die harten Eichenrippen waren gewölbt, damit die untere Hälfte des Rückgrats in den Brustkasten des Sitzenden geschoben und seine Schultern nach hinten gezwungen wurden, als wäre er an ein Faß gebunden.
    Will sackte auf dem Stuhl zusammen, sah auf seine Taschenuhr, studierte die phrenologischen Bilder an den Wänden und die Reihe der vergilbten Totenschädel, die ganz oben auf dem Bücherregal standen

Weitere Kostenlose Bücher