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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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entzündeten Augen, bis er es nicht mehr aushielt. Er schnitt Frank Linniman mitten in einer Frage betreffs Farbe und Konsistenz seines letzten Stuhlgangs das Wort ab. »Genug der Fragen«, brüllte Will. »Was fehlt mir?«
    Dr. Linniman blickte beleidigt drein. Überrascht hob er die Augenbrauen – die so blaß waren, daß man sie fast nicht sah. »Mr. Lightbody«, setzte er an, warf einen kurzen Blick auf den Notizblock, bevor er Will professionell warnend anstarrte, »zu diesem Zeitpunkt bin ich nicht in der Lage, eine Diagnose zu stellen. Das ist erst der Anfang. Wir brauchen Bluttests und -auszählung, Urin- und Stuhlanalysen, Sie müssen zum Röntgen, in die Dickdarmabteilung, Spezialisten müssen Ihre Zähne, Augen, Mandeln und Zunge untersuchen, wir müssen feststellen, wieviel Azeton Sie ausatmen und wie sich Ihre Darmsäfte zusammensetzen. Wir haben kein vollständiges Bild vor heute abend, frühestens.« Er hielt inne, schob den Unterkiefer vor, zog an seiner Krawatte. »Ich könnte natürlich eine vorläufige Vermutung äußern, aufgrund Ihrer Hautfarbe, dem Aussehen Ihrer Zunge, Ihrer allgemeinen Kraftlosigkeit und Ihres Unwohlseins …«
    Dieses Gefühls des Sinkens, des dem Untergang Geweihtseins kam erneut über Will, aber er kämpfte dagegen an. Kraftlosigkeit? Unwohlsein? Wer war diese selbstsüchtige, eingebildete, aufgeblasene Hyäne mit dem vorstehenden Unterkiefer, daß sie sich über ihn ein Urteil anmaßte?
    »In der Tat ist es so«, fuhr Linniman fort, nun in dozierendem Tonfall, »daß wir viele Fälle wie Ihren zu Gesicht bekommen – aber ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen. Nervöse Erschöpfung. Koffeinbedingte Neuralgie. Hyperchlorhydrie. Mit Sicherheit Autointoxikation. Aber diese Diagnose hat auch der Boss schon gestellt.« Er nickte weise mit dem blonden Kopf, schmatzte mit den Lippen und klappte leise den Notizblock zu. »Wir werden die Tests abwarten. Man weiß nie, was dabei herauskommt.«
    Will ging unter, ertrank, wirbelte den Abfluß der riesigen Spüle des Untergangs hinunter. »Was ist mit meiner Frau?« knurrte er und bäumte sich plötzlich auf dem Stuhl auf, kämpfte mit aller Kraft dagegen an. »Was ist mit Eleanor?«
     
    Schwester Graves wartete im Flur auf ihn. Die Kacheln schimmerten matt, Patienten in Rollstühlen wurden vorbeigeschoben, eine Schar Schwestern und Pfleger bahnte sich mit den Schultern einen Weg durch den Korridor. Koffeinbedingte Neuralgie. Hyperchlorhydrie. Autointoxikation. Das war Medizinerjargon, Voodoo, so gut wie bedeutungslos, und er würde sich davon nicht beeinflussen lassen. Was machte es schon, wenn er drei, vier Tassen Kaffee am Tag trank – war es etwa Schierling? Strychnin? Dennoch, als Schwester Graves ihn lächelnd und plaudernd den Gang entlang zum Röntgenraum führte, schien Will den Bann von Frank Linnimans Worten nicht abschütteln zu können: Die Tests hatten kaum begonnen, und schon gab es einen Namen – gab es mehrere Namen – für das, was ihm fehlte.
    Sein Magen begann zu schmerzen, und er hatte seine Beine nicht recht unter Kontrolle, als Schwester Graves ihn in einen ruhigen Warteraum mit Landschaftsbildern an der Wand und Orientteppichen auf dem Boden brachte. Er blieb betreten mitten im Zimmer stehen, als Schwester Graves seine Krankenblätter einem lebhaften kleinen Arzt mit asiatisch schrägstehenden Augen, in der Mitte gescheiteltem Haar und Monokel reichte, und er konnte nicht umhin, einen kleinen Stich der Enttäuschung zu verspüren, als sie ihn mit dem geflüsterten Versprechen, in fünfundzwanzig Minuten wiederzukommen, verließ. Was hatte er erwartet? Das fragte sich Will, als er sich in einer Ecke auf einen Stuhl unter eine der ubiquitären Palmen setzte – sie hatte Besseres zu tun, als den ganzen Tag neben ihm zu sitzen und ihm die Hand zu halten. Sie mußte auch noch andere Patienten haben, eine Familie, Pausen, um zu frühstücken, zu Abend zu essen, sich gut zu benehmen; sie mußte gewiß ein eigenes Leben haben außerhalb dieser heilenden Wände.
    Vier Männer und zwei Frauen waren außer ihm noch im Wartezimmer, saßen wie er auf den Folterstühlen des Bosses. Alle waren erstaunlich jung – in den Dreißigern, Vierzigern – und sahen so gesund aus wie jeder x-beliebige Mensch auf der Straße. Das heißt, dem äußeren Anschein nach. Wer wußte schon, welches Elend sie im Inneren quälte oder was für bösartige Schatten sich auf dem fluoreszierenden Schirm im Hinterzimmer zeigen würden?

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