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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Nach kurzem Kampf gab Will es auf, so zu tun, als säße er bequem – alles wäre besser gewesen als dieser Stuhl: sich flach auf dem Boden auszustrecken, in einer Schlinge von der Decke zu baumeln, an der Barbarenküste von Piraten gekielholt zu werden –, und er beugte sich linkisch nach vorn über seine Knie und blätterte den Battle Creek Morning Enquirer durch nach Meldungen über neugeborene Kälber und Unfälle auf Farmen.
    Zehn Minuten seines Lebens verstrichen, bevor er den Enquirer mit Dr. Kelloggs Hausorgan, The Battle Creek Idea, austauschte. Dort auf der ersten Seite, zwischen einem Artikel, in dem ein graumelierter Räuberbaron aus San Francisco die Vorzüge des San rühmte, und einem geschwätzigen Bericht über die Florentiner Villa der Contessa Spalancare, war ein schmaler Kasten, in dem die Neuankömmlinge aufgelistet waren. Sein und Eleanors Name sprangen ihm entgegen, in Form gegossen und mit Bedeutung versehen dank der Druckerschwärze: Mr. und Mrs. William Fitzroy Lightbody aus Peterskill, New York. Er schlug ein Bein übers andere und seufzte befriedigt. Sie mochten in getrennten Zimmern auf unterschiedlichen Stockwerken untergebracht sein, aber hier zumindest bestand noch eine Verbindung zwischen ihnen, schwarz auf weiß, im Nachrichtenblatt des großen Doktors.
    Ein Assistent erschien an der Tür zum inneren Sanktuarium und rief einen Namen – »Mrs. Pratt?« –, und eine Frau stand behende von ihrem Stuhl auf und durchschritt den Raum. Will beobachtete sie verstohlen. Sie konnte nicht älter als dreißig sein, war gut gekleidet, kein Anzeichen von Hinkebein, Buckel, geschwollenen Gelenken, Pockennarben oder Magengeschwüren, und soweit er sehen konnte, war sie bereits eine Meisterin in der Battle-Creek-Haltung – ihre geraden Schultern und das konkave Rückgrat hätten als Prägeform für den physiologischen Stuhl benutzt werden können. Und was fehlte ihr? Irgendwas Inneres, vermutete er, irgendwas, was unter den Falten ihrer Kleidung versteckt lag … und der Gedanke daran, an ihre Kleidung und das, was darunter war, erregte ihn, bis er spürte, daß sein Penis steif wurde.
    Gott, war er geil. Und wie war das möglich, ein Mann in seinem Zustand? Zuerst Miss Muntz, dann Schwester Graves und jetzt diese völlig Fremde, diese arme gepeinigte Frau, und ihn gelüstete nach ihr, hier saß er im Wartezimmer des Röntgenraums im Sanatorium zu Battle Creek und hatte eine Erektion. Er dachte an das Unkraut, das der Gärtner in Peterskill jeden Sommer jätete – abgeschnitten, vertrocknet, die Lebenssäfte dahin und selbst das robusteste davon ausgesondert, verbraucht, weggeworfen, so viel zum Verbrennen bestimmter Abfall, und dennoch schafften es diese halbtoten Pflanzen, ihre Samen zu verbreiten, weißer Flaum, den der Wind davontrug, bis es aussah wie ein Schneesturm im August. Vielleicht war es das. Vielleicht starb er, und sein Körper versuchte verzweifelt, seinen Samen zu verbreiten, ein Organismus, der verrückt danach war, sich fortzupflanzen und seine Charakteristiken weiterzugeben, bevor es zu spät war, ungeachtet ehelicher Bindungen oder der Eignung der Empfängerin. Das war purer Darwinismus. Man mußte ihm nur die Tochter nehmen, und die eisgrauen Stimmen seiner Vorväter schrien auf in priapeischer Bedrängnis; man drohte ihm mit Ausrottung, mit einem Grab, das keine Erben umstanden, und beim bloßen Anblick einer Frau wurde er steif … In diesem Augenblick fiel ihm auf, daß er die Patientin anstarrte, und er senkte den Blick auf das Nachrichtenblatt. Mr. und Mrs. William Fitzroy Lightbody: Wo war Eleanor, wenn er sie brauchte?
    »Mr. Lightbody?« Der Assistent stand in der Tür, ein bläßlicher kleiner Mann mit gelichtetem Haar, der nicht gesünder aussah als alle anderen in diesem Raum, aber das Battle-Creek-Lächeln war ihm so untrüglich ins Gesicht gestanzt, als käme er vom Fließband. »Bitte hier entlang.«
     
    Der Rest des Morgens bezeugte die fortgeschrittene Leistungsfähigkeit der diagnostischen Wissenschaften. Will stand vor der Röntgenmaschine und atmete ein und aus für den asiatischen Arzt
    – ein gewisser Dr. Tomada, der erste leibhaftige Japaner, den Will zu Gesicht bekam – und seinen bläßlichen kleinen Assistenten. »Sie nicht sollen atmen zu tief«, informierte ihn Dr. Tomada und blinzelte streng hinter seinem funkelnden Monokel. »Müssen Lunge füllen.« Um es ihm zu demonstrieren, mußte sich der Assistent vor die Maschine stellen und

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