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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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länger er darüber nachdachte und je länger er in die wütend schrumpfenden, harten grünen Punkte ihrer Augen blickte, um so unschuldiger fühlte er sich. Alles, was er gewollt hatte, war ein bißchen Trost gewesen. Eine Umarmung seiner Frau. Er war ein kranker Mann, und alles hier war neu für ihn und überwältigte ihn. Vielleicht hatte er den falschen Ort gewählt, vielleicht war eine Umarmung etwas, dem man sich hinter verschlossenen Türen hingeben sollte und nicht mitten in einer pflichtbewußt kauenden Gesellschaft, und dennoch, sollte sie nicht ein bißchen seines Geisteszustand und seiner Bedürfnisse eingedenk sein? »Mir gefällt es hier nicht, Eleanor«, sagte er schließlich. »Ich bin noch keinen ganzen Tag hier und mußte alle möglichen Unwürdigkeiten über mich ergehen lassen, angefangen mit deinem Dr. Kellogg, der seinen Finger in meinen Mund steckt, bis zu einer Schwester Bloethal, die sich mit Schläuchen und Flaschen und was weiß ich allem an meinem hinteren Ende zu schaffen macht –« Er unterbrach sich, als er Schwester Graves erwähnen wollte. Schwester Graves und was zwischen ihnen in der Abgeschiedenheit seines Badezimmers vorgefallen war waren etwas, wovon er instinktiv wußte, daß er es besser für sich behalten sollte.
    Eleanor wich nicht von der Stelle. Mrs. Stover, knapp außer Hörweite, schien bereit, ihr jederzeit zu Hilfe zu eilen. »Verdirb es mir nicht, Will Lightbody«, warnte sie ihn, ihre Stimme ein wütendes Flüstern. »Fang bloß nicht mit deinem vor Selbstmitleid triefenden Sermon an und deinem, deinem –« Plötzlich schien sie betroffen. Ihre Augen hatten sich geweitet, hatten sich geöffnet wie zwei Morgenblumen, und Tränen standen darin. Tränen.
    Will schämte sich. Er kam sich vor wie ein Barbar, wie ein Abtrünniger – und trotzdem konnte er nicht umhin, aus der Haltung, die er eingenommen hatte, ein klein wenig Befriedigung zu ziehen, obwohl er nicht hätte sagen können, warum.
    Eleanor hatte ihr Taschentuch in der Hand. Sie tupfte damit ihre Augen ab, als ein Paar weißgekleideter Pfleger den Gang entlangeilte und die fetteste Frau, die Will jemals gesehen hatte, an ihnen vorüber in den Speisesaal schwankte. Eine fast so fette Frau war ihm schon einmal vor Augen gekommen – im Zirkus der Ringling Brothers –, und er ließ seine Gedanken schweifen, verlor sich in einer Phantasie von bärtigen Frauen, brüllenden Wildkatzen und tanzenden Dickhäutern, als Eleanor erneut sprach, ihre Stimme jetzt sanft und zögernd. »Ich weiß nicht, wie ich es dir begreiflich machen soll. Es ist nur …, das hier ist der einzige Ort, wo ich glaube, daß ich wirklich glücklich bin … und nach dem Baby … ich weiß es einfach nicht, Will. Wenn ich Hoffnung habe, jemals wieder gesund zu werden, dann hier, bei meinen Freunden und Lehrern. Hier habe ich gelernt, auf die richtige Art und Weise zu leben, Will, die einzige Art und Weise.« Sie hielt inne, blickte ihm in die Augen. »Und sieh dich selbst an. Das ist auch der richtige Ort für dich, Will, der einzige Ort, den ich kenne.«
    Er hörte ihren versöhnlichen Ton, hörte das Flehen, aber er konnte nicht anders. »Abgesehen vom Sears-Roebuck-Katalog, meinst du wohl. Und wer war das, um den du dich beim Frühstück so bemüht hast? Dr. Linniman, oder? Frank? Und essen die Ärzte jetzt mit den Patienten – ist das Teil der Behandlung?«
    »Darüber werde ich mit dir nicht reden. Darüber nicht.« Ihre Augen waren wieder Schlitze, die metallisch schillerten wie das irisierende Grün zweier flatternder Libellen. »Dr. Linniman ist zufällig einer der größten Ärzte dieses Landes, von Dr. Kellogg persönlich ausgebildet, und er hat mehr für mich getan als sonst jemand auf der Welt – jedenfalls seit Mutter gestorben ist. Wenn er nicht wäre, glaube ich nicht, daß ich die Kraft hätte, am Morgen aus dem Bett aufzustehen.« Sie blickte den Korridor entlang. »Er war da für mich, als ich meine Tochter verlor, als einziger.«
    »Als einziger?« Will traute seinen Ohren nicht. »Ich war in Peterskill, hab’ mir vor Sorgen den Magen ruiniert und auf ein Telegramm von dir gewartet. Was hast du erwartet, daß ich tue – daß ich wie der Geist aus Dickens’ Weihnachtsmärchen neben deinem Bett erscheine? Du warst es, die nicht wollte, daß ich komme.«
    »Nein, nein, nein«, sagte sie, und ihre Stimme wurde schrill, als sie die Hände hob, um ihre Ohren damit zu bedecken. Mrs. Stover wollte auf sie zueilen, aber

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