Willkommen in Wellville
die knarzende Treppe hinaufstieg, sich auf die kalte, zerwühlte Matratze warf und die Nacht über sich hereinbrechen ließ.
Am Morgen gab es gebratenen Hecht mit Eiern, Meerrettichbutter und einer Art Pfannkuchen, der nach Fisch schmeckte – genau gesagt, nach Hecht –, und dann kam der lange einsame Gang zur Post Tavern. Bender war nicht im Hotel. Hatte keine Nachricht hinterlassen. Gereizt und ungeduldig, hatte Charlie nur den einen Wunsch, daß es vorwärtsginge und er sich nützlich machen könnte, er wollte etwas tun, irgend etwas, und er schritt in der Halle auf und ab, bis er begann, Blicke auf sich zu ziehen. Der Mann an der Rezeption, dieser Simpel mit der langen Nase und den eingefallenen Backen, den er zwei Abende zuvor hatte erdrosseln wollen, beobachtete ihn besonders aufmerksam, verfolgte argwöhnisch jeden seiner Schritte auf den wertvollen Teppichen und den fleckenlosen Böden. Ebenso der Türsteher – er wirkte jedoch eine Spur respektvoller, seitdem er mit angesehen hatte, wie Charlie dem Droschkenkutscher ein so fürstliches Trinkgeld gegeben hatte. Auch einigen Gästen – verhätschelte, weißhaarige, selbstgerechte Typen – begann er aufzufallen. Dem geschäftsführenden Direktor von Per-Fo hätte es nicht angestanden, wie ein Penner aus dem besten Hotel der Stadt hinausgeworfen zu werden, deswegen schlug Charlie den Mantelkragen hoch und ging wieder hinaus in die morgendliche Kälte. Um die Ecke fand er ein Café, in dem es Sandwiches gab, und er investierte zehn Cent seiner schwindenden Ressourcen in eine Tasse Kaffee und ein Schinken-Käse-Sandwich – alles, nur keinen Fisch –, las die Zeitung vom vergangenen Nachmittag und widmete sich seinem Kaffee, bis seine Uhr zehn Uhr vierzig zeigte. Dann zog er seine Handschuhe an, rückte die Krempe seines Huts zurecht und machte sich auf den Weg zu seiner Verabredung mit Bender auf dem alten Malta-Vita-Gelände Ecke Verona/Wattles.
Es war frisch, aber nicht annähernd so kalt wie am Tag zuvor, und wenn seine Füße vor Überanstrengung nicht geschmerzt hätten, hätte er den Spaziergang vielleicht sogar genossen. Die körperliche Bewegung beruhigte ihn, und als er die Capital Avenue erreichte, begann er wieder Hoffnung zu schöpfen – Bender wußte, was er tat, soviel stand fest. Es hatte keinen Sinn, sich wegen nichts und wieder nichts aufzuregen. Zum erstenmal, seitdem er aus dem Zug gestiegen war, sah und hörte er wieder, was um ihn herum vorging, es war fast, als wäre er aus tiefem Schlaf aufgewacht. Eine Droschke fuhr ruhig die Straße entlang, und er hörte das Knarren des Geschirrs und das Quietschen der Sprungfedern neben dem unaufdringlichen, nahezu zurückhaltenden Getrappel der Pferdehufe; zwei Frauen mit Hut und Schultertuch kamen auf dem Gehweg mit leise wispernden Röcken an ihm vorüber; irgendwo bellte ein Hund, der sich auf den morgendlichen Ausgang freute. Die Szenerie schien einem Roman entnommen, die sauberen Straßen, die frischgestrichenen Häuser, die Bäume, die in ordentlichen Reihen dastanden: Hier konnte nichts schiefgehen. Das war die Mitte Amerikas, und sie war standfest, tugendhaft, nobel, wohlhabend. Charlie spähte hinauf zu den wunderlichen Türmchen und Giebeln der Häuser, betrachtete die umlaufenden Veranden mit den reglosen Schaukeln, die in allen Farben schimmernden Scheiben aus buntem Glas und die großen Erkerfenster, die die Vorübergehenden zum Eintreten aufzufordern schienen, und er fragte sich, wie es wohl wäre, in einem solchen Haus zu leben, am Morgen zur Arbeit zu gehen und am Abend nach Hause zu kommen zu einer schmucken kleinen Frau mit grünen Augen … und jetzt sah er wieder Eleanor Lightbody vor sich, ihre unbekümmerte Überheblichkeit, die Art, wie sie ihn mit ihrer Unerreichbarkeit zum Narren hielt. Das Bild leistete ihm Gesellschaft, die ganze Capital hinauf und die ganze Verona hinunter bis zur Wattles Lane.
Charlie war um Punkt elf Uhr an Ort und Stelle, aber Bender war nirgendwo zu sehen. In den Ruinen herrschten eine Stille und ein Schweigen wie in einem Etruskergrab. Keine Vögel belebten die Wände, keine Ratten huschten in den Ecken – sogar der Penner schien sich grünere Weiden gesucht zu haben. Charlie schlenderte zweimal durch das Gebäude, stocherte im Unrat herum, stellte sich vor die großen dreistöckigen Öfen und versuchte, etwas von der Ehrfurcht heraufzubeschwören, die er am Nachmittag zuvor empfunden hatte. Unwillkürlich sah er ungefähr jede Minute auf
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