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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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konnte nicht anders, er war ein kleines bißchen besser gelaunt. Das alles war wesentlicher Bestandteil der Battle-Creek-Erfahrung.
    Aber trotz der feiertäglichen Fröhlichkeit und der Aussicht, verkleidet als der wahre und originale Weihnachtsmann Anti-Skorbut-Köstlichkeiten aus seinem überreich gefüllten Korb verteilen zu können – eine Rolle, die er immer sehr genoß –, hatte John Harvey Kellogg den Eindruck, es sei dieses Jahr ganz besonders kalt. Er war am Boden zerstört. Er war in ein Loch gefallen. In einen Höllenschlund. In eine so tiefe Depression, daß er sich, wäre er sein eigener Arzt gewesen, die physiologische Lebensweise und die ganze Latte der Anwendungen für den Neurastheniker verordnet hätte, aber darin bestand natürlich das Paradox – er hatte sich der physiologischen Lebensweise voll und ganz verschrieben, und doch schien es, als würde sie ihn, kaum merklich, im Stich lassen. Aber vielleicht war er auch nur erschöpft. Vielleicht war es das.
    Er saß allein in seinem Büro, ordnete, einen Joghurt löffelnd, die Notizen für seinen abendlichen Fragekasten-Vortrag und versuchte, der Ursache seines Unbehagens auf den Grund zu gehen. Es war vermutlich George, der letzte in einer Reihe von Imitatoren, Ränkeschmieden, Schmarotzern, Blutsaugern, Schwindelkünstlern und falschen Fuffzigern, und er wollte sich nicht nur die Früchte des Kelloggschen Genies aneignen, sondern zudem Mißbrauch mit dem Namen Kellogg treiben. Er fühlte sich wie ein grimmiger alter König, der von rebellischen Unterlingen belagert wird, wie Laokoon im Würgegriff der Schlangen: Kaum hatte man eine Schlange abgeschüttelt, war eine andere da, um sie zu ersetzen. Warum konnten sie ihn nicht in Ruhe lassen?
    Von Anfang an hatten sie versucht, ihn niederzumachen, sich einzumischen, zu profitieren, wo sie kein Recht dazu hatten. Kaum hatte er den Malzkaffee erfunden, klaute ihm Charlie Post das Rezept, verdiente mit geschmackloser Reklame Unsummen von Geld, kaufte die halbe Stadt auf, einschließlich der Morgenzeitung, und machte sein Leben zu einer immerwährenden Hölle. Kaum hatte er die Corn-flakes erfunden, brach eine heulende Bande Halunken über die Stadt herein, bestach seine Angestellten und gründete in jeder verfallenen Hütte, die zwei Türen und ein Fenster hatte, konkurrierende Firmen – und sein Bruder Will war der schlimmste Schurke von dem ganzen Pack. Der Doktor kochte deswegen noch immer vor Wut. Der Abgrund, der sich in jenem Winter zwischen ihnen aufgetan hatte, war so tief wie der Grand Canyon oder der Pazifische Ozean und wurde immer noch tiefer. Allein schon der Gedanke, daß er ihm vertraut hatte, der Gedanke, daß er naiv genug gewesen war, zu glauben, Blut sei dicker als Wasser! Er hatte seine Lektion gelernt, soviel war sicher. Aber es schmerzte immer noch. Schmerzte wie ein Zahn, der gezogen wird, wie ein Zahn, der an hundert aufeinander folgenden Tagen gezogen wird.
    Der Doktor hatte seinen jüngeren Bruder aus der Bedeutungslosigkeit errettet und ihn zum Buchhalter, Geldbeschaffer, Cheffaktotum und Majordomus des San gemacht, aber Will war nicht zufrieden gewesen. Und dankbar auch nicht. Er wollte mit Post gleichziehen, des Doktors Sanitas Corn-flakes wie irgendein infernalisches pflanzliches Gebräu oder Schlangenöl vermarkten, aber John Harvey Kellogg hatte dem einen Riegel vorgeschoben. Nein, Sir. Dahin führte kein Weg. Ihm lag mehr an seinem Ruf als Arzt und Chirurg als an der Verhökerung von Produkten. Außerdem runzelte der Ärzteverband die Stirn angesichts derlei Praktiken – billige Reklame, Geldgier und so weiter –, und er hatte dreißig Jahre gebraucht, um sich von den Swamis, Nudisten, Antivivisektionisten und Schlangenbeschwörern zu distanzieren, und das würde er nicht aufs Spiel setzen.
    Und deshalb hatte er Will, aus Rücksichtnahme, das Recht an dem Patent überlassen, damit dieser eine unabhängige Firma gründen konnte, die Battle Creek Toasted Corn Flake Company (die Will bereits Kellogg’s Toasted Corn Flake Company nannte), mit der Maßgabe, daß der Doktor als Direktor und Inhaber der Aktienmehrheit die Kontrolle behielt. Das schien ein gutes Geschäft. Der Doktor bekam fünfunddreißigtausend Dollar in bar und mehr als fünfzig Prozent der Aktien – und was am wichtigsten war, er konnte Geld verdienen, ohne sich mit kommerziellen Machenschaften besudeln oder sich unangenehmen Fragen bezüglich des steuerfreien Status des San und seiner Unternehmungen

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