Willkür
Motiven aus den frühen Tagen Sydneys. In der Ecke sah man einen offenen Rollsekretär, davor einen Stuhl mit hoher Lehne. Der Sekretär beherbergte ein Durcheinander aus Briefumschlägen und Papieren. Ein Marmeladeglas diente als Behälter für Schreibutensilien. Neben der Schreibtischlampe stand die Fotografie einer verhalten in die Kamera lächelnden jungen Frau.
Das Zentrum des Raumes jedoch war ein kleiner Apple auf einem Tischchen. Wyatts Blick wanderte wieder zu Jardine. »Schreibst du deine Memoiren?«
Die ganze Zeit hatte Jardine ihn mit traurigem Gesichtsausdruck fixiert, als wollte er Wyatts Gedanken lesen und sie nachvollziehen können. Nun aber war da sein offenes, ungezwungenes Lächeln, das selten seine Wirkung auf Mitmenschen verfehlte. »Ich setze gern auf Pferdchen«, erklärte er. »Die Zauberkiste hilft mir, die Gewinnchancen zu erhöhen.«
Wyatt gab sich keine Mühe, auch nur das geringste Interesse zu heucheln. »Ist Kepler immer noch der Kopf des Syndikats?«, fragte er unvermittelt.
»Ja, und er erfreut sich bester Gesundheit«, erwiderte Jardine und sein Lächeln erlosch.
»Ich muss ihn sprechen.«
Jardines hageres, zerfurchtes Gesicht hatte etwas von einem knorrigen Ast; es zeigte keine Regung, als er sagte: »Was dich betrifft, Kumpel, glaube ich kaum, dass er an einer Unterhaltung interessiert ist.«
Wyatts Mundwinkel zuckten. »Das wird sich ändern.«
Jardine ließ ihn nicht aus den Augen; er war geradlinig, ernsthaft und verlässlich — hervorragende Eigenschaften für einen Safeknacker und Bankräuber. Wenn er sprach, kamen die Worte sanft und leise über seine Lippen. »Ich operiere nur noch im Hintergrund«, sagte er und meinte damit, dass er Pläne für Leute erstellte, die diese Pläne zwar umsetzen konnten, selbst jedoch nicht in der Lage waren, sie zu entwickeln. »Das könnte hilfreich sein«, bemerkte Wyatt.
»Du willst ihn zuerst ein paar Mal bluten lassen?«
»Richtig.«
»Und in der Zwischenzeit freust du dich, dass ich’s immer noch drauf habe.«
»Wieder richtig.«
Jardine nippte noch einmal an seinem Scotch, dann stellte er das halb volle Glas ab und schob es weg. »Ich muss in dieser Stadt leben.«
»Vielleicht reichen ja ein paar Informationen.«
»Andererseits«, fuhr Jardine fort, »gibt es Tage, da vermisse ich die alten Zeiten.«
In seine Augen stahl sich dieses gewisse Funkeln. Wyatt kannte es von früher, es besagte, dass Jardine sofort erkannte, ob ein Job sich lohnte oder nicht. Er ließ es unkommentiert, Jardine sollte von sich aus erklären, ob er mit von der Partie war. »Erzähl mir mehr über das Syndikat.«
»Wir sprechen von Sydney, Kumpel. Hier sind die Dinge geregelt, anders als das Durcheinander unten im Süden. Die Cops werden geschmiert und es gibt weit und breit keine Amateure, die andern die Gebiete streitig machen. Ein Zweig des Syndikats kontrolliert den Autodiebstahl in den westlichen Vororten, der andere verkauft Koks an Straßendealer. Außerdem läuft da was mit Diamanten.«
»Und Kepler?«
»Er ist der Abgott des Establishments oben an der Küste.« Jardine zählte an den Fingern ab: »Er hat eine große Anwaltskanzlei, ein Anwesen direkt am Meer und seine Frau ist das, was man eine Dame der Gesellschaft nennt. Er ist Mitglied in allen wichtigen Clubs und kennt die richtigen Leute, den Generalstaatsanwalt, den Polizeichef und ein paar Nationalisten von der ALP Right eingeschlossen. Er gibt sich, wie einer vom Geldadel sich eben gibt, ist charmant, gebildet, weiß, was Etikette ist, und oben an der Küste kriegen alle weiche Knie wegen dieses vornehmen Gangsters in ihrer Mitte.«
»Seine glatte Oberfläche interessiert mich nicht. Ich will wissen, was sich dahinter verbirgt.«
»Dahinter verbirgt sich ein brutaler Charakter. Er räumt Leute einfach so aus dem Weg, weil sie ihm hinderlich sind oder weil er an dem Tag gerade einen Migräneanfall hat. Seine Frau prügelt er mit Bedacht, damit es keine Blessuren gibt, und die meiste Zeit verbringt er in seinem Penthouse in Darling Harbour, um von dort aus das Syndikat zu leiten.«
»Wie alt ist er?«
Jardine überlegte. »Um die sechzig. Aber so schnell zieht der sich nicht zurück. Kepler ist ehrgeizig und versucht, seine Leute nach Victoria zu schleusen.«
»Ein paar von denen habe ich kennen gelernt.«
Beide verfielen in Schweigen. Wyatt arbeitete bereits an einer konkreten Vorstellung von Kepler und seiner Organisation und suchte nach Schwachstellen. Es kam ihm vor,
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