Willkür
fünf Minuten vor dem Hotel stehen wird?«
»Ich will nur kurz nachschauen, ob er auf dem Zimmer ist.« Sie drehte sich zu den Fächern um. »Ja, er ist da. Welchen Namen soll ich notieren?«
»Er erwartet mich«, sagte Wyatt knapp, legte auf und trat einen Schritt zurück, um besser beobachten zu können, was jetzt geschehen würde. Sollte sie erneut zum Hörer greifen oder auf andere Weise signalisieren, dass Jardine mehr war als ein gewöhnlicher Gast, wäre er sofort verschwunden. Doch die Frau machte sich nur eine Notiz und rief etwas. Eine Schwingtür neben der Treppe wurde aufgestoßen und ein älterer Mann erschien auf der Bildfläche. Wyatt sah, wie er die Notiz nahm und sich anschließend die Treppe hochmühte. Kurze Zeit später kehrte er zurück, wechselte einige Worte mit der Frau und verschwand wieder durch die Schwingtür. Danach spielte sich nichts mehr in der Lobby ab. Wyatt stellte sich vor, wie Jardine wegen der merkwürdigen Botschaft ins Grübeln geriet und vorsichtshalber schon mal nach seiner Waffe tastete. Jardine würde das schon verkraften. Doch bevor er mit ihm sprach, wollte Wyatt ganz sicher sein, dass das Dorset keine unangenehmen Überraschungen für ihn bereithielt.
Fünf Minuten später verließ er die Telefonkabine und bewegte sich im Schutze der Säulen auf die Treppe zu.
Bereits auf halbem Wege zu Jardines Zimmer kitzelte der Lauf einer Waffe sein Rückgrat. Er blieb abrupt stehen. »Du hast es immer noch drauf«, sagte Wyatt.
»Stimmt. Im Gegensatz zu dir. Meine Güte, ist dir eigentlich klar, Kumpel, dass ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt ist?«
»Einer der Gründe, weshalb ich hier bin«, sagte Wyatt, während er sich langsam dem Mann zuwandte, der einst sein Freund war.
VIERZEHN
»Das Hotel hat einen Hintereingang«, erklärte Jardine. »Von da bin ich zum Broadway, hab den Eingang des Hotels eine Weile im Auge behalten und bin dann zurück.«
»Du hast es immer noch drauf«, bemerkte Wyatt noch einmal.
Jardine lehnte sich zurück. »Nicht schwer zu erraten, warum du so an meinen Fähigkeiten interessiert bist.«
Sie saßen in Jardines Mini-Suite, einem Wohnzimmer mit einem kleinen Balkon davor und gleich daneben das Schlafzimmer. Wyatt hätte wetten können, dass Jardine das Bad am Ende des Flurs benutzte, seine Wäsche in der Waschküche im Keller wusch und die Mahlzeiten im Café gegenüber einnahm. Jedenfalls war das vor zwölf Jahren sein bevorzugter Lebensstil gewesen, als er seine Zelte im Norden Melbournes, in einem Hotel ähnlich wie diesem, aufgeschlagen hatte. Seinerzeit war der eine oder andere Coup auf ihr gemeinsames Konto gegangen — ein Goldbarrenraub, drei Überfälle auf Provinzbanken und dann der ultimative Job überhaupt, bei dem sie sämtliche Exponate einer Juwelenausstellung geraubt und im Anschluss eine Art Finderlohn mit der Versicherung ausgehandelt hatten. Wyatts Privatleben in jenen Tagen war mehr als eingeschränkt gewesen, logisch, dass er sich auch nicht für das Privatleben Jardines interessiert hatte. Als der Hals über Kopf aus Melbourne verschwunden war, weil er, wie er erklärte, eine Luftveränderung brauche, hatte Wyatt das kaum mehr als ein Schulterzucken entlockt. Später erst hatte er erfahren, dass Jardine verlobt gewesen war und dass ein Jugendlicher diese Verlobte mit einem gestohlenen Wagen überfahren hatte.
Wyatt ließ sich einen Scotch einschenken. Er sagte: »Cheers«, und kam so einer Frage Jardines zuvor.
Der nickte ihm zu. Beide nippten nur an ihrem Drink. Wyatt war kein passionierter Trinker und hoffte, dass auch Jardine sich nicht zu einem solchen entwickelt hatte. Eigentlich gab es dafür keinen Hinweis. Die grauen Augen sprachen von Vorsicht und Einsamkeit, nicht aber von Verzweiflung, und den Räumen sah man an, dass bei ihrer Gestaltung nicht alles dem Zufall überlassen wurde. Im Wohnzimmer nahm ein Bücherregal eine gesamte Wand ein. Offensichtlich bevorzugte Jardine Biographien, Literatur zur Zeitgeschichte und Berichte über Expeditionen. Romane gab es nicht. Auf einem zweiten Regal hatten die Stereoanlage, ein Videorecorder und ein kleiner Fernseher ihren Platz. Daneben lagen einige CDs — klassische Musik, Jazz, Folk. Der abgenutzte Teppichboden verschwand zum Teil unter einem Perserteppich. Die Sessel hatten Überwürfe und der, in dem Wyatt saß, war bequem und keineswegs durchgesessen. An der einen Wand hing eine Landschaftsfotografie von Ansel Adams, an der anderen hingen Lithografien mit
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