Willküra (German Edition)
stehen.
»Sag mir ganz ehrlich, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass mein Nachfolger gewählt wird, wenn ich bei dem Herrschertreffen bin?«
Der Leiter der Entwicklungsabteilung guckte zwar in die Richtung des Gesandten 6574, schaute jedoch vor Verlegenheit an ihm vorbei an die Wand hinter ihm.
»Nun«, fing er langsam und leise an, »ziemlich hoch um ehrlich zu sein.«
Er machte eine Denkpause, verschränkte langsam die Arme vor der Brust, hörte aber mit dem Wippen der Füße nicht auf.
»Ehrlich gesagt wurden bisher alle Gesandten während des Herrschertreffens ausgetauscht.«
»Alle?«
»Ja. Sobald ein Gesandter weg ist, sehen die Bürger nicht, was er für sie tut. Und schon verliert er die notwendigen Punkte, die er sich ja verdienen könnte, wenn er hier wäre. Meine Theorie ist ja: die Bürger haben nicht viel Verständnis dafür, dass die Gesandten sich mit superstaatlichen Problemen beschäftigen, statt mit ihren Problemen.«
»Aber das hängt doch alles irgendwie zusammen!«
»Das verstehen die Bürger nicht, denke ich, denn es ist ja sehr komplex. Auch ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich mich wundere, wieso sich jetzt um dieses und jenes nicht gekümmert wird, und das, obwohl ich genau weiß, dass Zeit und Mittel fehlen.«
Er machte noch eine kurze Pause und nickte.
»Manchmal ist es aber auch wirklich Versagen und Nichterkennen. Nicht alles kann man auf Zeit und Geld schieben, das wäre ja etwas zu einfach.«
»Warum machen wir das alles hier eigentlich?«, fragte Gesandter 6574 mit leicht traurigem Blick.
»Ich mache es, um meine Familie zu ernähren und einigermaßen gut zu leben«, antwortete der Leiter der Entwicklungsabteilung.
»Aber genauso gut könntest du doch auf einer einsamen, kleinen Insel leben, deiner Familie jeden Tag Fische fangen und Tomaten ernten, um sie zu ernähren, und ihr könntet die gesamte Zeit glücklich miteinander in der Hängematte liegen, singen und euch Geschichten erzählen. Ohne Stress, ohne Zeitdruck, ohne dauernde Kritik, ohne ständige Kontrolle - du weißt, was ich meine!?«
Jetzt sah der Leiter der Entwicklungsabteilung Gesandtem 6574 gerade in die Augen.
»Dann würde es aber ein anderer hier machen. Und der würde dann vielleicht meine einsame, kleine Insel verkaufen, und dann? Das wäre für mich keine Alternative. Ich möchte die Welt, in der ich lebe, mitgestalten, und nicht nur davon abhängig sein, was andere für mich entscheiden.«
»Ja, ich weiß«, nickte Gesandter 6574. »Deshalb machen wir das hier.«
Sie lächelten sich verstehend und dankbar an.
»Wie viel Zeit hab ich noch?« fragte Gesandter 6574.
»Nicht mehr viel.«
»Dann lass die Verantwortlichen rein, dass sie mir ihre Lageberichte der Versuchswelten noch schnell durchgeben können.«
53
»Du kannst jetzt zurückgehen zu deinen Räumen, ich lass dich dann rufen, wenn sie weg sind«, sagte die Schwester des Willkürherrschers bestimmt.
Dr. Triddl hatte sie allein im Rollstuhl die Große Treppe herunter getragen und bis vor das Willkürherrschaftliche Arbeitszimmer geschoben. Hier war sie plötzlich aus dem Rollstuhl aufgestanden und hatte entschieden, dass sie von nun an wieder laufen würde. Und wenn sie jemand fragen würde, dann würde sie sagen, dass es ihr soweit wieder besser ging.
»Keine Details! Je weniger man sagt, desto weniger fragen die Leute nach«, hatte sie ihn noch aufgeklärt, um ihn dann für den Moment zu entlassen.
Richtig begeistert war er nicht, dass sie ihn nun so wegschickte, aber was sollte er tun?
Die Schwester des Willkürherrschers wartete noch, bis Dr. Triddl außerhalb ihrer Sichtweite war, und ging dann erst in das Arbeitszimmer hinein.
»Fürchtedich!«, rief sie erfreut, als sie ihn am Tisch lehnen sah. Sie rannte zu ihm und umarmte ihn glücklich. »Es ist fast geschafft! Bisher hat alles geklappt. Nicht alles nach Plan«, lachte sie, »aber wir können doch zumindest das Ziel erreichen. Unser Ziel! Es kann gleich losgehen. Wir treffen den Willkürherrscher und Jamel gleich am Hintereingang vom Schloss, und sie werden beide in die Blende gehen.«
»Beide, Schwester des Willkürherrschers?«
Fürchtedich IX. hatte sich vorgenommen, sich nichts anmerken zu lassen. Er wollte besonnen vorgehen. Was würde es bringen, wenn er die Schwester des Willkürherrschers jetzt mit den Tatsachen konfrontierte, die er herausgefunden hatte? Viel lieber wollte er nun ihren Plan, und auch ihre zukünftigen, durchkreuzen, und gezielt
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