Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Frage.
«Spannkraft und Spaß» macht in diesen merkwürdig euphorischen Tagen selbst der ansonsten eher zur Skepsis neigende Gefährte Egon Bahr bei seinem Kanzler aus. «Es war wie in alten Zeiten», erinnert er sich an die Rückreise von einem Staatsbesuch in Kairo zum Regierungsflughafen in Köln-Wahn, bei der der bestens gelaunte Chef mit ihm und anderen Begleitern eifrig eine Reihe neuer Projekte erörtert habe – und als die Maschine dann auf der Landebahn ausgerollt sei, «amüsierten wir uns über das große Aufgebot zum Empfang».
An der Gangway warten, was sonst nicht üblich ist, der Innenminister Hans-Dietrich Genscher und der Leiter des Bundeskanzleramts, Horst Grabert. Sie melden den Heimkehrern die Festnahme eines Agenten.
Den «Fall G.», wie Willy Brandt die spektakulärste Geheimdienstaffäre in der Geschichte der Bundesrepublik von Stund an so distanziert wie möglich nennt, wird von ihm zunächst einmal als schwer erträgliche persönliche Kränkung empfunden. Obschon seit Monaten vorgewarnt, dass sein persönlicher Referent ein aus Ostberlin ferngesteuerter «Kundschafter» sein könnte, verschlägt ihm die Nachricht schier den Atem: «Was sind das für Leute», schreibt er am Abend des 24. April in sein Tagebuch, «die das ehrliche Bemühen um den Abbau von Spannungen zwischen den beiden deutschen Staaten auf diese Weise honorieren!» Er habe sich zwar über die allgemeinen Praktiken der SED-Führung zu keiner Zeit irgendwelchen Illusionen hingegeben, beteuert er danach vor dem Parlament, wolle seine «tiefe menschliche Enttäuschung» aber nicht verhehlen.
Was der Regierungschef da als «ungeheuerliches Ausmaß an Verstellung und Vertrauensmissbrauch» beklagt, ist die Erfolgsgeschichte des Günter Guillaume, der ihm im Kanzleramt zugearbeitet hat und zugleich in Diensten der Hauptverwaltung Aufklärung des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit stand – auf den ersten Blick ein Super-GAU. Die bangen Fragen danach, welche Geheimnisse der «Offizier im besonderen Einsatz» (OibE) seinen Auftraggebern verraten haben könnte, wachsen sich in den folgenden Wochen fast zur Hysterie aus.
Bei näherer Betrachtung ist es eine Abfolge von Versäumnissen und Pannen, deren Beginn fast zwei Jahrzehnte zurückliegt. Während sich Brandt 1956 im freien Teil Berlins anschickt, als Parlamentspräsident zu einer zentralen politischen Figur zu avancieren, «flüchtet» der im Ostsektor lebende Fotograf und Verlagsangestellte Guillaume mit seiner Frau Christel in den Westen. In Frankfurt am Main tritt in er die SPD ein, steigt dort Mitte der Sechziger zum Geschäftsführer der Stadtratsfraktion auf und wird schließlich als Abgeordneter in den Magistrat gewählt.
Seines Fleißes wegen erwirbt sich der dem Anschein nach stramm antikommunistische Genosse einen ausgezeichneten Ruf, der rasch sein weiteres Fortkommen begünstigt. Vor allem konservative Sozialdemokraten wie der aus dem Hessischen stammende Bundesverkehrsminister und Gewerkschaftsführer Georg Leber finden an ihm Gefallen. Der bestellt den umsichtigen Organisator 1969 zu seinem Wahlkreisbeauftragten und vermittelt ihn anschließend an den Leiter der Wirtschaftsabteilung im Bonner Kanzleramt, seinen Freund Herbert Ehrenberg.
Die in der Regel strengen Verhöre, denen sich insbesondere Übersiedler aus der seinerzeit noch so genannten Zone zu unterziehen haben, übersteht der ehemalige Redakteur des Ostberliner Verlags «Volk und Wissen» auch aufgrund dieser prominenten Unterstützer. Für den Mann lege er seine Hand ins Feuer, begegnet Leber etwa dem professionellen Argwohn Egon Bahrs, und trotz einiger Lücken in seiner Biographie gibt der Kölner Verfassungsschutz ebenfalls grünes Licht.
Und so nimmt das Unheil seinen Lauf. Im Herbst 1972 stößt der umtriebige «OibE» als Persönlicher Referent Willy Brandts in die Schaltzentrale der Macht vor – eine wahre Blitzkarriere, die dann allerdings ebenso schnell wieder beendet zu werden scheint: Weil ihm der servile Neue, den er «in technischer Hinsicht als guten Adjutanten» bewertet, «geistig zu eng» ist, regt der Kanzler bald seine Versetzung in eine andere Abteilung an.
Aber dann tritt Genscher auf den Plan. Guillaume, eröffnet der zuständige Innenminister seinem Kabinettsherrn Ende Mai 1973 unter Berufung auf den Präsidenten des Verfassungsschutzes, Günther Nollau, sei mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Spion der DDR. Nur reiche leider das Beweismaterial noch nicht aus, weshalb
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