Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Generalangriff auf den Bundesvorsitzenden zu blasen. Der habe sich nie dagegen gewehrt, poltert er im Vorstand los, dass die Sozialdemokratie infolge des Zustroms Hunderttausender, größtenteils pseudorevolutionärer Mitglieder zu einem «verrotteten Sauhaufen» degeneriert sei.
Kanzler und «Nebenkanzler»: Im Krisenjahr 1973 entfernt sich der Finanzminister Helmut Schmidt immer weiter vom führungsschwachen Willy Brandt.
Die Genossen haben sich von dem Schreck noch nicht erholt, als der nun vollends außer Rand und Band geratende «Kronprinz» selbst in der Öffentlichkeit kein Blatt mehr vor den Mund nimmt. Ultimativ verlangt er dem Kanzler in einem Fernsehinterview ab, den von «halbfertigen Akademikern» gesteuerten «Zersetzungsprozess» unverzüglich zu stoppen und darüber hinaus sein Kabinett endlich zu reformieren. Das werde mit dem Austausch einiger Köpfe aus der zweiten Garnitur freilich nicht gelingen, sondern müsse konsequenterweise «schon ein bisschen tiefer gehen». Terminologisch geschulte Parteifreunde wie Holger Börner und Horst Ehmke werten diese dem ersten Eindruck nach etwas rätselhafte Formulierung rasch als kaum noch verhüllten «Putschversuch».
Die Attacke trifft den ohnedies schon hochgradig verunsicherten Regierungschef in einer besonders schwierigen Situation. Seit Monaten quälen ihn die unvermeidlichen Folgen, die sich aus der für Mitte Mai anberaumten Wahl Walter Scheels zum Staatsoberhaupt und der dann notwendig werdenden Neubesetzung im wichtigen Außenministerium ergeben. Soll er Kandidaten aus den eigenen Reihen verprellen und dem eindeutig an der Nachfolge interessierten künftigen FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher den Zuschlag erteilen oder eher eine Koalitionskrise riskieren? Ein Grund mehr für Helmut Schmidt, ihn zum Offenbarungseid zu nötigen.
Im Grunde, wird später der Historiker Arnulf Baring über diese Tage des sozialliberalen Bündnisses schreiben, habe Brandt auf verlorenem Posten gestanden, und der scheint das damals ähnlich einzuschätzen. Er sei schwer «erschüttert», wehrt er sich matt, mit welcher Dreistigkeit man ihn einerseits seiner angeblich mangelnden Führungskraft wegen schelte, um ihm gleichzeitig ungeniert Bedingungen zu diktieren – ihn zu «präjudizieren», wie er das nennt.
Einige Augenblicke lang sieht es nach der Vorstandssitzung tatsächlich so aus, als würde er resignieren, aber dann erlebt er schon in der folgenden Woche ein kleines Wunder. Auf seine Einladung hin kommt es zu zwei Gipfeltreffen mit Herbert Wehner, bei denen jeweils über mehrere Stunden hinweg die vertrackte Lage mit einem für alle Genossen höchst überraschenden Ergebnis analysiert wird: Der «amtierende Kanzler», verkündet der Fraktionschef am 17. März auf einem Landesparteitag in Bremen, sei «nicht zu ersetzen».
Was bringt den «Onkel» dazu, einem offensichtlich zermürbten Kollegen, den er in den meisten Sachfragen eher noch kritischer beurteilt als sein rebellischer Freund aus Hamburg, plötzlich derart den Rücken zu stärken? Im Laufe ihrer Gespräche, bei denen sie öfter zur Rotweinflasche greifen, als es ihnen von ihren Ärzten erlaubt worden ist, sorgt sich der alte Stratege in erster Linie um die Regierungsfähigkeit seiner Partei. Ein vom Gros der Bevölkerung vermutlich als Sturz empfundener Rücktritt Brandts werde sie notgedrungen weiter in Misskredit bringen; darüber hinaus erschreckt ihn aber auch die Kaltschnäuzigkeit Helmut Schmidts.
Von einer Aussöhnung kann dabei sicher keine Rede sein, doch sind sich beide zumindest darin einig, eine Art Neuanfang zu versuchen – und so sitzen sie nun zum ersten Mal seit fast einem halben Jahr bei Konferenzen demonstrativ Stuhl an Stuhl nebeneinander, während sich der zur Ordnung gerufene dritte Mann der «Troika» ungewohnt bescheiden in Selbstkritik übt.
Willy Brandt wieder obenauf. In einem vom Vorstand abgesegneten Zehn-Punkte-Papier bemüht er sich, Wehner und Schmidt insoweit entgegenzukommen, als er sich ausdrücklich zum Godesberger Programm bekennt und seine Entschlossenheit unterstreicht, um die «gesellschaftliche Mitte» kämpfen zu wollen. Der von den Jusos propagierten «Doppelstrategie gegen die eigene Partei» erteilt er klarer denn je eine glatte Absage und verspricht vor allem, das «überflüssige Krisengerede» im Zusammenhang mit einer Kabinettsumbildung zu beenden. Dass die Koalition mit der FDP «längerfristig notwendig» ist, steht für ihn außer
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