Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
er es für sinnvoll halte, den Mitarbeiter vorerst in seiner Funktion zu belassen, um ihn möglichst ungestört weiter beschatten zu können.
«In technischer Hinsicht guter Adjutant»: DDR -Spion Günter Guillaume beim gemeinsamen Urlaub in Norwegen mit Rut Brandt im Sommer 1973.
Einem Regierungschef anzuraten, den Sicherheitsorganen des Landes gleichsam als Lockvogel zur Verfügung zu stehen, ist im Grunde eine Zumutung, doch Brandt willigt ein. Der vermeintliche Agent darf ihn sogar in den Urlaub nach Norwegen begleiten, wo er vor Ort den per Telex abgewickelten Schriftverkehr beaufsichtigt. Der Kanzler hat damit kein Problem, da er ja davon ausgehen darf, dass man seinen Referenten observiert – was aber bemerkenswerterweise unterbleibt.
Nach dessen Geständnis gibt er andererseits nonchalant zu Protokoll, der Verdacht sei von ihm nicht ganz ernst genommen worden, und womöglich liegt es an dieser Sorglosigkeit, dass er die «Causa G.» in seiner ersten offiziellen Stellungnahme erstaunlich lässig behandelt. So verneint er im Bundestag etwa die brisante Frage, ob dem «Persönlichen» streng geheime Papiere in die Hände gefallen sein könnten – im Lichte der tatsächlichen Geschehnisse eine glatte Falschaussage, die er mit einer ähnlich schwer begreiflichen Korrektur noch erheblich verschlimmert: Er habe die Anwesenheit Guillaumes in seinem Feriendomizil wohl «schlicht verdrängt».
Was treibt ihn zu so viel Wurstigkeit, die ihm aus den Reihen der Opposition prompt den Vorwurf einträgt, das Parlament bewusst zu täuschen? Wie er später selber einräumt, hält er nach der Aufdeckung des Skandals ein halbwegs angemessenes Krisenmanagement nicht für nötig: «Die Vernunft hätte geboten», bedauert Brandt in seinen Memoiren, «dass ich mich nach meiner Rückkehr aus Nordafrika auf den akuten Spionagefall konzentrierte …»
Stattdessen fährt er vom Flughafen erst einmal zur CDU, um seinem Vorgänger Kurt Georg Kiesinger zum siebzigsten Geburtstag zu gratulieren, und widmet sich auch sonst seltsam unberührt den politischen Alltagsgeschäften. Die Reform des Bodenrechts oder des heftig umstrittenen Paragraphen 218 über die Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen nehmen ihn weit mehr in Anspruch als die rasch ausufernde Geheimdienstaffäre, die schon nach wenigen Tagen einem neuen Höhepunkt zusteuert. Da informiert ihn der Justizminister Gerhard Jahn über Mutmaßungen – die anschließend in einem Dossier des Bundeskriminalamtes näher untersucht werden –, sein Adjutant habe ihm während der Reisen im Sonderzug oder bei anderen Anlässen «Mädchen zugeführt».
Das BKA nimmt dabei auf leicht schwülstig ausstaffierte Details Bezug, die dem Begleitkommando des Regierungschefs unter Androhung von Sanktionen entlockt worden sind – typische Schlüsselloch-Geschichten von fragwürdiger Substanz, aber umso größerer politischer Sprengkraft. Unvermittelt steht das Problem der Erpressbarkeit zur Debatte, und welche Wirkung dies auf den nach jahrelangen Verleumdungen empfindsam gewordenen Willy Brandt hat, erkennt am 1. Mai bei einem Besuch auf Helgoland die «Stern»-Reporterin Wibke Bruhns: «Scheißleben», entfährt es ihm dort plötzlich, als er sich offenbar unbeobachtet fühlt.
An diesem Abend, den er nach außen hin immer noch standhaft im Kreise zechender und Seemannslieder singender lokaler Parteihonoratioren verbringt, scheint ihm jede Hoffnung abhandenzukommen. Die Gefahr, lüsternen Medien in einer zusehends aufgeheizten Atmosphäre seine Privatangelegenheiten ausbreiten zu müssen, ängstigt ihn derart, dass er einen Abschiedsbrief an seine Familie schreibt. Würde er in der Nacht «einen Revolver gehabt» haben, «hätte ich mich erschossen», beichtet er kurz darauf seinem Genossen Holger Börner.
Er habe «Schluss machen» wollen, bestätigt der SPD-Chef Anfang der Achtziger auch dem Historiker Arnulf Baring, indem er ihm aus seinen erst posthum publizierten «Notizen» über die Helgoland-Visite vorliest: «Davor und danach düstere Gedanken, die ich auch in einem dann aber in Bonn vernichteten Brief festhielt.» In den 1989 erschienenen «Erinnerungen» versucht er das Geständnis allerdings deutlich abzuschwächen: Die ihm nachgesagten suizidalen Neigungen seien eine «beträchtliche Überzeichnung» der Tatsache gewesen, «dass ich sehr deprimiert war».
Was ihn in jenen dramatischen Tagen bis an den Rand der Verzweiflung bringt, sind dabei nur zu einem Teil die
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