Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
«klebrigen Weibergeschichten», die er verächtlich ein «Produkt blühender Phantasie» nennt. Darüber hinaus glaubt er ernsthafte Anhaltspunkte dafür gewonnen zu haben, dass seinem Fraktionsvorsitzenden die Observierung Günter Guillaumes bereits bekannt war, als der im Mai 1973 zum DDR-Generalsekretär Erich Honecker fuhr – ein Verdacht, der ihn regelrecht elektrisiert und danach bis in sein Todesjahr hinein verfolgen wird. Eine konspirative, gegen ihn und seine Entspannungspolitik gerichtete Liaison der beiden schwer durchschaubaren Granden, die ja eh bereits seit längerem in engem Briefkontakt stehen, mag er von da an nie mehr ganz ausschließen.
Hat sich der Ende April mit Wehner vereinbarte Neustart damit nicht praktisch schon erledigt? Sosehr sich der Regierungschef einerseits immer noch an die Macht klammert und mit seinen Vertrauten Pläne für eine Kabinettsumbildung erörtert, so klar ist ihm, dass er sich nur dann im Amt behaupten kann, wenn ihn der schwierige Partner uneingeschränkt unterstützt.
Aber die Ereignisse überschlagen sich. Während der Kanzler am 3. Mai den portugiesischen Außenminister Mário Soares empfängt, bekommt «HW» zunächst einmal Besuch von Günther Nollau, seit Jahr und Tag sein treuer Gefolgsmann. Der Präsident des Verfassungsschutzes ist von den bisherigen Ermittlungsergebnissen in der Agentenaffäre, die ihm der BKA-Kollege Horst Herold gerade aufgetischt hat, so erschüttert, dass er Wehner unverzüglich Bericht erstatten möchte. Angeblich sei Guillaume selbst über intimste Details der persönlichen Umtriebe seines Chefs auf dem Laufenden gewesen.
Wehner zeigt sich, sofern man Nollaus späteren «Aufzeichnungen» folgen darf, wie am Boden zerstört: «Er sinkt förmlich in sich zusammen», als ihm der oberste Geheimdienstler eindringlich vor Augen hält, welche Möglichkeiten sich dem Spion eröffnen, munter aus dem Privatleben Brandts zu plaudern und damit die Bundesrepublik «bis auf die Knochen» zu blamieren. «Das bricht uns das Rückgrat», habe der Fraktionsvorsitzende danach bloß noch gestöhnt.
An einer beinharten Auseinandersetzung der beiden sozialdemokratischen Schlüsselfiguren führt nun kein Weg mehr vorbei. Der Zufall will es, dass die SPD-Führung eine Wochenendklausur im nordrhein-westfälischen Bad Münstereifel anberaumt hat, um mit den wichtigsten Repräsentanten der Gewerkschaften die prekäre ökonomische Situation im Lande zu beraten – eine gute Gelegenheit zum Showdown. Also konfrontiert der puritanische «Zuchtmeister» am folgenden Samstagabend seinen Parteifreund in einem Chambre séparée mit der «schmerzlichen Mitteilung». Die handelt, wie sich der Kanzler erinnert, im Wesentlichen von «Damenbekanntschaften» und einem «irgendwo liegengebliebenen Collier».
Natürlich geraten danach unterschiedliche Lesarten dieses Gesprächs in Umlauf. Auf einigermaßen übereinstimmenden Bekundungen basiert allein die Version, Herbert Wehner habe dem Kontrahenten ungerührt die Empfehlung Nollaus weitergereicht, seiner Erpressbarkeit wegen das Regierungsamt aufzugeben, sich selbst aber einen konkreten Ratschlag versagt. Wie immer sich der Kanzler in seiner zweifellos schwierigen Lage entscheide – und das müsse er unbedingt in den nächsten vierundzwanzig Stunden hinter sich bringen –, er stehe ihm in jedem Fall zur Seite.
Doch Brandt erwartet mehr. Von «HW», der ihn ja noch einige Wochen zuvor als schlichtweg unersetzbar bezeichnet hatte (und das als Mehrheitsbeschaffer in der Fraktion ebenso für ihn ist), mit einem wenig substanziellen Treuegelöbnis abgespeist zu werden, kann ihm nicht genügen. Im Übrigen kennt er den professionellen Haudegen gut genug, um die feinen Nuancen herauszuhören, die bei ihm zwischen ernst gemeinter und eher pflichtgemäßer Loyalität liegen.
Folglich wertet er als eigentlichen Kern der Botschaft, dass der Rivale die Ansicht Günther Nollaus offenkundig teilt, auch wenn er die Konsequenzen daraus mit Schweigen übergeht. «Es ist und bleibt grotesk, einen deutschen Bundeskanzler für erpressbar zu halten; ich bin es jedenfalls nicht», betont Brandt nach seinem Ausstieg im Fernsehen – ein klarer Hinweis darauf, wem er den Rücktritt schließlich anlastet. Aus seinem Empfinden, in erster Linie von Wehner in die Demission getrieben worden zu sein, wird er nie einen Hehl machen.
Zunächst aber scheint er noch zu kämpfen. Obschon nach diesem für ihn deprimierenden «Gedankenaustausch» sein
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