Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
erscheinen ihm da nur logisch.
So bleibt er im Geschäft. Die Politik, erklärt der Elder Statesman kurz und bündig, sei für ihn nun mal «nicht etwas, woraus man sich pensionieren lassen kann», und geht dabei kaum einem Disput aus dem Weg. Auch als er sich nach der Abstimmungsschlacht um die künftige Hauptstadt für mehrere Wochen ins französische Bauernhaus zurückzieht, um dort in seinem kleinen Garten eigenhändig Gemüse anzubauen, verschafft er sich regelmäßig über sein Bonner Büro Gehör. Die in ersten Umrissen debattierte Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung interessiert ihn dabei ebenso sehr, wie ihn das ausufernde Gemetzel zwischen den Ethnien auf dem Balkan und der Moskauer Putsch gegen den Kreml-Chef auf den Plan rufen.
In seinem letzten Lebensjahr befasst sich Brandt dann mehr und mehr mit grundsätzlichen Fragen. In einer Rede an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg, wo ihm im Februar 1992 der Dolf-Sternberger-Preis verliehen wird, bekennt er sich ausdrücklich zum Patriotismus als «Voraussetzung für Weltbürgertum» und wenig später bei einem Auftritt in Dresden zu einem Deutschland, das er leidenschaftlich davor warnt, eine «Sonderrolle» zu spielen. Vielmehr sei es vonnöten, «in eine Normalität zu finden, zu der andere auf ihre Weise auch finden mussten», und eine «gute Nachbarschaft im Innern wie nach außen» zu pflegen.
Nicht «zum Gefangenen der Vergangenheit» zu werden, ist im März, als der Bundestag über die Einsetzung einer Enquête-Kommission zur «Aufarbeitung der Geschichte und Folgen der SED-Diktatur» berät, eines seiner wichtigsten Anliegen – und sosehr er es für geboten hält, zurechenbares Unrecht zu ahnden, so entschieden beharrt der Pragmatiker im Großen und Ganzen auf Aussöhnung. Wer geläuterten ehemaligen Kommunisten im Herrschaftsbereich der Sowjetunion zujubele, hatte er bereits vorher zu bedenken gegeben, könne «einzelnen Personen» in der früheren DDR schwerlich «alle Schuld zuschreiben».
Doch zu dieser Zeit plagen ihn längst andere, persönliche Sorgen. Nach einer kurzen Phase zunehmenden körperlichen Unwohlseins, das er sich zunächst mit starken Schmerzen im linken Bein erklärt, diagnostizieren Ärzte Anfang Oktober 1991 einen Darmtumor und operieren ihn umgehend in der Uniklinik in Köln. Einige Monate lang sieht es so aus, als sei der Eingriff geglückt, aber dann entfalten Metastasen ihre verheerende Wirkung.
Nach einem plötzlichen Kollaps, der ihn Mitte April 1992 in seinem Ferienhaus aus der Bahn wirft, fühlt sich der ins heimische Unkel zurückgekehrte Patient in immer rascher aufeinanderfolgenden Schüben so elend, dass er am 22. Mai ein zweites Mal unter das Messer kommt, die Chirurgen den Versuch allerdings gleich wieder abbrechen. Der äußerst aggressive Krebs ist selbst für radikale Schnitte schon zu weit fortgeschritten.
Von Stund an gilt er als hoffnungsloser Fall – ein auf den Tod darniederliegender Mann, dessen robuste Physis sich noch vier Monate lang gegen das Ende wehrt und der von seiner Frau aufopferungsvoll gepflegt wird. Es ist ein stilles, mit großer Geduld ertragenes, zum Teil auch unvermeidbar öffentliches Sterben, wenn ihn alte Weggefährten oder andere politische Prominente bis hinauf zum amtierenden Kanzler besuchen. Mitfühlende Passanten deponieren Blumensträuße hinter dem Hoftor, und Fotoreporter belagern das Anwesen so hartnäckig, dass Brigitte Seebacher, weil sie an einen schlechten Scherz glaubt, über die Sprechanlage sogar den unangemeldet vor der Tür stehenden Michail Gorbatschow abweist.
Willy Brandt nimmt, solange er dazu noch imstande ist, seinerseits bewusst Abschied. Neben den Kindern aus den ersten beiden Ehen empfängt er von Egon Bahr über Hans Koschnick bis hin zu Holger Börner nicht nur die engsten seiner politischen Freunde – zu den Genossen zählt auch Helmut Schmidt, mit dem er bereits im Jahr zuvor seinen Frieden gemacht hat. Der Sozialistischen Internationale, die Mitte September ausgerechnet in seinem geliebten Berlin tagt, schickt der Vorsitzende mit äußerster Willensanstrengung zu Papier gebrachte und den Delegierten von Hans-Jochen Vogel verlesene letzte Grüße, in denen er sich eindringlich für eine immerwährende Veränderungsbereitschaft seiner Organisation ausspricht: «Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt euch auf eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer
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