Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
irritierender Weise bereits auf ihrem Programmparteitag vom Dezember 1989 in Berlin. In einer mitreißenden Rede macht ein vor Selbstbewusstsein strotzender Oskar Lafontaine keinen Hehl daraus, um wie viel wichtiger ihm der «wirtschaftliche Aufbau und die demokratische Erneuerung» im maroden Arbeiter-und-Bauern-Staat sind als alle Träume von einer raschen Einheit. Der vormals fast schon väterliche Freund verteidigt dagegen ebenso engagiert seine Auffassung, nach der nirgendwo geschrieben stehe, dass die Deutschen auf «einem Abstellgleis» zu verharren hätten, «bis irgendwann ein gesamteuropäischer Zug den Bahnhof erreicht hat». Die hin- und hergerissenen Genossen applaudieren dem einen wie dem anderen in etwa der gleichen Lautstärke.
Da erscheint es nur konsequent, wenn die solchermaßen geteilte Partei bei der ersten freien Volkskammer-Wahl, die in Wahrheit eine Abstimmung über die Wiedervereinigung ist, prompt die Quittung erhält. Sie kommt im März 1990 in ihren ehemaligen Stammlanden lediglich auf knapp zweiundzwanzig Prozent – für Willy Brandt, der inzwischen ehrenhalber auch der Ost-SPD vorsitzt, eine Riesenenttäuschung. Der Kurs Lafontaines empört ihn so sehr, dass er nun offen gegen die Aufforderung des Spitzenkandidaten opponiert, die sozialdemokratische Parlamentsfraktion möge den im Sommer von den Regierungen in Bonn und Berlin ausgehandelten Einigungsvertrag ablehnen.
Stattdessen unterstützt er in Interviews immer auffälliger die Bemühungen Helmut Kohls, und als der alte und neue Kanzler nach dem Vollzug des staatlichen Zusammenschlusses seinen Herausforderer bei der Wahl zum gesamtdeutschen Bundestag weit hinter sich lässt, glaubt der rote Patriot zu wissen, was die Gründe dafür sind. Wenn der Eindruck entstehe, «man sehe in der Einheit und Freiheit eher eine Bürde denn eine Chance», so liest er dem Präsidium seiner Partei die Leviten, sei «mehrheitliches Vertrauen» leider nicht zu gewinnen.
Mit der jungen Führungsmannschaft vom Zuschnitt seines einstigen «Lieblingsenkels», der dem Gedanken an nationale Selbstbestimmung keinen annähernd so hohen Wert beizumessen scheint wie er, kann der zunehmend apodiktisch argumentierende Brandt kaum noch etwas anfangen. Ihn befremdet die Geschichtslosigkeit der nachgeborenen Generation, die er insbesondere in der jetzt ausufernden Debatte über die künftige Hauptstadt bis knapp an den Rand des Wortbruchs gesteigert sieht. Dass darüber jemals ernsthaft gestritten werden könnte, ob Berlin wieder Regierungssitz wird, hätte er nicht für möglich gehalten, im Frühjahr 1991 aber muss er erleben, wie die meisten in seiner Partei zugunsten Bonns die Hand heben. Als das Parlament schließlich noch mit einer knappen Mehrheit von 338 gegen 320 Stimmen der alten Kapitale den Zuschlag erteilt, ist das für den ehemaligen Regierenden Bürgermeister «einer der glücklichsten Tage».
Aber seiner Bereitschaft, immer noch zu kämpfen, können solche Erfahrungen nichts anhaben. Bewundernd hat ihn das Staatsoberhaupt Richard von Weizsäcker schon vorher «ein deutsches Schicksal» genannt – «ein Leben voller Risiken der Existenz, geprägt von gutem Gelingen, harten Rückschlägen und neuen Ufern», und dieser vor allem auch für seine internationalen Aktivitäten geltende Ruf feuert ihn wie eh und je an. Sosehr es ihm in der Phase der großen Umwälzungen zuvörderst um das eigene Land geht, so selbstverständlich fühlt er sich als Friedensnobelpreisträger im Herbst 1990 in der Pflicht. Im Vorfeld des Golfkrieges versucht er den Diktator Saddam Hussein zum Rückzug aus dem besetzten Kuweit zu überreden, um ein noch größeres Blutvergießen durch eine alliierte Gegenoffensive zu vermeiden. Am Ende ist ihm dann allerdings nur insoweit ein Teilerfolg beschieden, als er damit vorliebnehmen muss, knapp zweihundert in irakischer Gewalt befindliche Geiseln loszueisen.
Als ehemaliger deutscher Regierungschef nimmt Brandt so auch schon ein bisschen von dem vorweg, was später unter der Kanzlerschaft seines Parteifreundes Gerhard Schröder die Gemüter erhitzen wird. Im beginnenden Streit darüber, wie weit sich die mächtiger gewordene «Berliner Republik» immer noch aus allen Querelen heraushalten dürfe, bezieht er eindeutig Position: Wer von anderen Solidarität erwarte, habe selbst Verantwortung zu tragen. Ein Sitz seines Landes im UN-Sicherheitsrat und von der Völkergemeinschaft legitimierte Einsätze der Bundeswehr «out of area»
Weitere Kostenlose Bücher