Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
erstmals die Ausweisung. Der «Agitator», ordnet das Passkontor an, habe das Land spätestens «bis zum 1. September, abends sieben Uhr» zu verlassen.
Dass er dann doch bleiben darf, liegt vor allem an Torp. Der interveniert sogar beim Justizminister, den er «inständig» darum ersucht, den «sympathischen Jugendlichen» vor dem Konzentrationslager oder Schlimmerem zu retten – aber im Grunde ist es wohl erst eine Verschiebung der innenpolitischen Machtverhältnisse, die das Kabinett zum Einlenken bringt: Im Herbst 1933 feiert die Arbeiterpartei bei den Parlamentswahlen mit 40,1 Prozent der Stimmen einen rauschenden Triumph, und fortan ist die Regierung Mowinckel vom Wohlwollen der NAP abhängig.
So darf Willy Brandt vorerst aufatmen. Um nachzuweisen, dass er weder den schwer strapazierten Sozialkassen zur Last zu fallen noch mit seiner Tätigkeit anzuecken gedenkt, befolgt er darüber hinaus Torps Ratschlag, die Behörden durch ein Studium an der Königlichen Friedrichs-Universität zu besänftigen, doch der Ehrgeiz des Studenten hält sich in Grenzen. Über eine «vorbereitende Prüfung» in Philosophie, die er mit einem «gut» abschließt, und nebenbei ein bisschen Geschichte kommt der Proletarierspross nicht hinaus. Der vielfältigen Verpflichtungen wegen, bemerkt er dazu in seinen Memoiren nur lapidar, habe ihm bedauerlicherweise die Zeit gefehlt.
Wichtiger als nach akademischem Renommee zu streben, ist ihm damals jedenfalls, was er im Nachhinein etwas gespreizt die «antinazistische Aufgabe» nennt. Noch ehe er eine eigene Wohnung beziehen kann, beginnt er bereits damit, einen «multifunktionalen Stützpunkt» aufzubauen, der in Norwegen nicht nur das «andere Deutschland» repräsentieren, sondern außerdem als «Zentrale Auslandsstelle» seinen Jugendverband SJVD zusammenhalten und vor allem natürlich die für die Heimatfront zu leistende Arbeit koordinieren soll. Zur Rückenstärkung der im Reich verbliebenen Genossen, deren Spielräume sich zusehends verengen, bildet die von Oslo aus organisierte Kontaktpflege das Herzstück aller Aktivitäten.
Die meistens kaum mehr als ein halbes Dutzend Mitglieder umfassende Gruppe produziert fotomechanisch verkleinerte Druckerzeugnisse und von Seeleuten über die Grenze geschmuggelte sogenannte Wäsche – gefälschte Reisepapiere. Besonders heikles Informationsmaterial wird in Koffern mit doppeltem Boden nach Deutschland eingeschleust, oder man schreibt Nachrichten mit chemischer Tinte zwischen die Zeilen unverdächtiger Briefpost, die die Empfänger dann mit einer blutstillenden Watte sichtbar machen.
Es ist ein nervenaufreibender, von bitteren Enttäuschungen begleiteter, und wie Brandt einmal klagt, mit ziemlich «altmodischen» Mitteln geführter Kampf, den der personell und von seinen technischen Möglichkeiten her übermächtige Gegner meistens gewinnt. In Lübeck gelingt den Beamten der Gestapo schon knapp zwei Wochen nach seiner Flucht der erste schwere Schlag gegen seine Genossen, und immer neue Verhaftungswellen reißen in die fragile Untergrund-SAP schmerzliche Lücken.
Doch den tatendurstigen norwegischen Außenposten können solche Hiobsbotschaften nicht entmutigen. Mit der Vitalität seiner neunzehn Jahre und einer weit über dem Durchschnitt liegenden Sprachbegabung kommt er in Skandinavien auch deshalb so gut zurecht, weil er von Anfang an zu den internationalistisch denkenden Deutschen gehört. Als eine der Nachwuchshoffnungen seiner Partei glaubt er fest daran, dass letztlich allein eine die Völker vereinigende Arbeiterbewegung den Übeln der Welt Paroli zu bieten imstande sei, und so häufig ihn diese Annahme zu krassen Fehleinschätzungen verführt, so deutlich stabilisiert sie ihn zugleich.
Zur Erfüllung seiner «antinazistischen Aufgabe» soll Brandt in Oslo vor allem dem von Paris aus operierenden Chef der Exil-SAP, Jacob Walcher, zur Hand gehen – ein nach seinem Empfinden besonders ehrenvoller Einsatz. Unter den Führungsfiguren fühlt er sich dem ehemaligen USPDler, Spartacus-Matador und Gründungsmitglied der KPD nicht nur inhaltlich am nächsten; der um zweieinhalb Jahrzehnte ältere, 1928 als innerparteilicher Opponent von den Kommunisten geächtete Gewerkschafter wird auch sonst sein neues großes Vorbild. Noch lange nach dem Krieg rühmt er den einstigen Dreher als einen der «kernigsten Repräsentanten» seiner Couleur.
Dieser Genosse (Deckname: «Jim») verstärkt bei dem tüchtigen Mitstreiter nun zielstrebig das in
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