Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
allen Entscheidungslagen unerlässliche «revolutionäre Bewusstsein», und ein überaus emotionaler Briefwechsel beweist, dass sie wie Vater und Sohn miteinander verkehren.
Zugleich fühlt sich der junge Kombattant aber nicht allein seinen politischen Aktivitäten verpflichtet. Namentlich Menschen, von denen man «Schöpferisches» erwarte, erklärt er in späteren Jahren, «sollten die Möglichkeit haben, ihren Arbeitsalltag flexibel zu halten», weshalb er nach diesem Muster bereits in Oslo verfährt. Konsequent verfolgt er einerseits seine Pläne, um andererseits alle sich bietenden Annehmlichkeiten zu nutzen. Ein Asket und Kostverächter ist der in Ernstfällen zu eindrucksvollen Verzichtsleistungen fähige Widerstandskämpfer jedenfalls nicht.
Im Grunde habe er, sagt Brandt in der Rückschau, in Skandinavien eine «überwiegend normale Existenz geführt». Um seinen Unterhalt zu sichern, akquiriert er unentwegt Aufträge, weiß aber ebenso den gepflegten Müßiggang zu schätzen. Mit Gertrud Meyer, die im Juni 1933 ihr Versprechen wahr macht und dem Freund in das Osloer Exil folgt, besucht er Badestrände oder im Winter Skipisten und zeigt sich oft als geselliger Gastgeber. Obschon die gleichfalls höchst agile Lübecker Gefährtin ihre Einbürgerung dadurch beschleunigt, dass sie pro forma den norwegischen Studenten Gunnar Gaasland heiratet, gelten die beiden Deutschen bald als unzertrennliches Paar.
Von Norwegen aus setzt der deutsche Emigrant den Kampf gegen die Nationalsozialisten fort und ist im Namen einer «alle Völker vereinigenden Arbeiterbewegung» europaweit unterwegs.
Ihre erste gemeinsame Wohnung wird zu einer Art Schaltzentrale der SAP. In manchmal nächtelangen Debatten fördern Willy und Trudel Gesprächskreise, in denen sich Flüchtlinge und einheimische Genossen treffen, um Widerstandsformen der Arbeiterklasse und Modelle eines sozialistischen Europas zu diskutieren. Dass der eloquente Hausherr Brandt dabei in der überschaubaren norwegischen Hauptstadt schon früh die Bekanntschaft einflussreicher politischer Prominenz macht, hebt sein ohnedies ausgeprägtes Selbstwertgefühl beträchtlich.
Er beschränkt seinen Wirkungskreis aber nicht nur auf Oslo. Immer wieder reist der von den Behörden noch argwöhnisch beäugte Journalist im Land herum, um in Vorträgen über die Folterkeller der Gestapo aufzuklären, und unterhält einen Informationsdienst («Kampfbereit») oder verteilt in norwegischen Gewerkschaftshäusern die in Paris herausgegebene «Neue Front», das «Organ für proletarisch-revolutionäre Sammlung». Die Dependance in Norwegen, lobt der Berliner Parteivorstand den risikofreudigen Kombattanten in einem Brief an Jacob Walcher, sei von allen Auslandsvertretungen mit Abstand die beste.
Unterdessen tritt der SAP-Emissär mit dem Ziel, sich so fest wie möglich in der NAP zu verankern, deren Jugendverband «Arbeidernes Ungdoms-Fylking» (AUF) bei, der im Gegensatz zu seinem vergleichsweise unbedeutenden deutschen SJVD mit landesweit zwanzigtausend Mitgliedern eine politische und soziale Massenorganisation darstellt. Insbesondere in der mehrheitlich stramm linksorientierten Gruppe «Frihet», die zu Hochschulkursen und «gemütlichem Beisammensein» einlädt, trifft der warmherzig aufgenommene Genosse aus Deutschland «viele verwandte Seelen».
Noch Jahrzehnte später wird der SPD-Chef die «frische und unverbrauchte Atmosphäre» in Norwegen rühmen – in seiner Erinnerung eine umso schönere Zeit, als sie mit dem ersten großen Erfolg verbunden ist: Nachdem im Reich vierundzwanzig Kollegen verhaftet worden sind und sich nun in einem Prozess vor dem mittlerweile ins Leben gerufenen «Volksgerichtshof» wegen der «Fortführung einer verbotenen Partei» respektive «Aufforderung zum Hochverrat» zu verantworten haben, organisiert er kurz entschlossen eine Kampagne.
Auf Bitten seiner neuen Freunde legen mehrere Dutzend norwegische Richter und Anwälte in Berlin scharfen Protest dagegen ein, dass die Anklage zum Teil neu erlassene Gesetze rückwirkend anwende – ein «rechtsunwürdiges» Verfahren, wie es das in keinem zivilisierten Staat gebe –, und die deutsche Justiz, die sich in der Frühphase der NS-Diktatur noch als einigermaßen unabhängig betrachtet, lässt sich tatsächlich beeindrucken. Ein Delikt, auf das inzwischen die Todesstrafe steht, wird in der Anklageschrift stillschweigend übergangen, und so fallen die Urteile mit maximal drei Jahren Gefängnis sehr
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